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Delhi, Indien, 10. April 1998 Vor nahezu einer Woche habe ich Pakistan den Rücken gekehrt und bin ein Land weiter gezogen. Was nach dem Grenzübertritt sofort ins Auge springt, ist der ungewohnt hohe Frauenanteil in den Strassen. Es ist schockierend, wie einige unter ihnen unbegleitet und, ohne den Blick zu senken, selbstsicher umhergehen und dabei in einer obszönen Art ihre langen Haare öffentlich zur Schau stellen. Geradezu skandalös ist das Imitieren typisch männlichen Verhaltens wie Motorrad und Auto fahren. Zum Glück bin ich zur Abschwächung dieses Kulturschockes seit zwei Tagen Gast bei einer moslemischen Familie im alten Stadtteil von Delhi. Nachdem die Mutter das reichhaltige Mahl aufgetragen hat, darf sie es sich hinter zugezogenem Vorhang auf dem Fussboden der Küche gemütlich machen. Die Behausung besteht aus einem unmöblierten Raum von der Grösse eines durchschnittlichen Wohnzimmers und wird von einer Familie mit drei erwachsenen Söhnen bewohnt plus einem opiumsüchtigen Cousin, der jeweils liebevoll zugebettet wird, wenn er durch die Tür hereinschwebt und mit verdrehten Augen in einer Ecke zusammensinkt. Während im Iran die identitätslosen schwarzen Gestalten, die wie Schatten den Mauern entlang huschen, zum festen Bestandteil des Strassenbildes gehören, haben Frauen in gewissen Teilen Pakistans einen Seltenheitswert. Die wenigen, die in der Öffentlichkeit anzutreffen sind, treten entweder gruppenweise oder in männlicher Begleitung auf. Ihre Kleidung ist zwar abwechslungsreicher und überaus farbig, aber im Stil vielfach konservativer. Die pakistanische Verschleierung ist in ihrer Extremform total, sie lässt auf Augenhöhe lediglich ein Fenster aus grobem Netzgewebe zu. Sittenkonformes weibliches Verhalten muss offenbar nicht staatlich verordnet sein und mittels Geheimpolizei überwacht werden, der soziale Druck scheint durchaus auszureichen. Da im Gegensatz zum Iran ein Doppelleben nicht nötig ist, entspricht das, was man sieht, auch dem, was wirklich ist. Es verbirgt sich keine gewagte Garderobe unter dem Tschador, der beim Betreten des Hauses hastig abgestreift wird, wie das im Iran nicht selten der Fall ist. Dass Pakistan wesentlich konservativer ist, hätte ich nicht erwartet, ein nachhaltiger Benazir Bhutto- Effekt hat die breiten Massen jedenfalls nicht erfasst. Nach den strengen Vorschriften im Iran hatte ich mich auf mehr Bewegungsfreiheit gefreut, musste aber bald feststellen, dass diese durch eine ungemütlich grosse Aufmerksamkeit seitens der Männer erkauft werden musste. Das Gebot zur Verschleierung dient dem Schutz des Mannes vor dem Anblick der Frau, da er sonst abgelenkt würde und seinem Tagwerk nicht mehr nachgehen könnte. Früher war ich der Ansicht, diese Sichtweise sei etwas männerfeindlich, seit Pakistan weiss ich, dass an diesem Männerbild viel Wahres ist. Das Reisen war teilweise etwas mühsam, ich verbrachte viel Zeit damit, irgendwelche Typen wie einen lästigen Fliegenschwarm zu verscheuchen. Natürlich gab es auch andere, ich habe viele nette Menschen kennengelernt und wurde wiederum oft eingeladen. In den Privathäusern hatte ich als Frau den Vorteil, auch in den Innenbereich zugelassen zu werden, zu dem der Familie nicht angehörende Männer keinen Zutritt haben. Dort wachsen die Mädchen abgeschirmt im sicheren Schoss der eigenen Grossfamilie auf, bis sie von den Eltern in der Regel mit einem entfernten Verwandten vermählt und an dessen Grossfamilie weitergereicht werden, wo sie auf der untersten Hierarchiestufe einsteigen und sich mit der Geburt eines Sohnes etwas hinaufarbeiten können. Dass Mädchen nicht zählen, fällt spätestens dann auf, wenn jeweils im Gespräch auskommt, dass neben soundso vielen Kindern oder Geschwistern auch noch einige Töchter oder Schwestern vorhanden sind. Dass man die auch nicht noch extra zur Schule schickt, versteht sich von selbst. Die Rate der Analphabeten unter den Frauen liegt somit bei 90 %. Lauthals beklagt hat sich bei mir einzig eine westlich verzogene Engländerin, bei der ich einmal zu Gast war: Kurz vor der Eheschliessung konvertierte sie zum Islam, nur um nicht eigenwillig zu erscheinen und sich optimal anzupassen. Ihr pakistanischer Ehemann hat sich dadurch erkenntlich gezeigt, dass er vor kurzem beschloss, zusätzlich eine seiner Kusinen zu ehelichen. Und wenn die erste Frau weder den Ehemann noch die zweite Frau umgebracht hat, leben sie noch heute in einem ménage à trois. Das Halten mehrerer Ehefrauen ist jedoch deshalb weitaus weniger verbreitet, als man vermuten könnte, weil es sich die meisten finanziell nicht leisten können. Übrigens, und das gilt für alle Gesellschaftsschichten, heiratet man hier nicht einfach einen Mann, sondern eine ganze Familie, die eine geradezu magische Herrschaft ausübt, und die Kinderschar reicht völlig aus, den knappen Raum allmählich bis unters Dach zu füllen. Einige Male habe ich erlebt, dass jemand eine durchaus progressive Einstellung hat, die Missstände im eigenen Land anprangert, vielleicht sogar in England studiert hat, aber kaum betritt derjenige das Haus der Familie, hat man einen völlig anderen Menschen vor sich, als ob ein Schalter betätigt worden wäre. Fortsetzung im Brief aus Srinagar
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