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Last Update: 15.8.1999

 

Nepal, Oktober 1998

Entgegen meinen Erwartungen ist Indien in Sachen übertriebener Betreuung nicht besser. Grundsätzlich gilt: je hellhäutiger, desto besser, weshalb ein Europäer ein Objekt besonderer Attraktivität darstellt. Am schlimmsten waren diejenigen Orte, die auch von indischen Touristen besucht werden. Dort verging jeweils kaum eine Minute, in der nicht jemand das exotische Tier aus dem fernen Westen mit seiner Kamera festhalten wollte und mit den üblichen Fragen nach genauer Artzugehörigkeit quälte. Mit der Zeit wurde mein Umgangston mit den Gruppen Schaulustiger, die mir regelmässig in der Sonne standen, barscher und unfreundlicher. Ich glaube daher, dass mein Herz während der letzten paar Monate an Güte eingebüsst hat.

Nach Ablauf von nahezu einem Jahr überlege ich mir nicht immer, aber immer öfter, ob es sinnvoll sei, im Rahmen dieses Feldzuges noch weiter nach Osten vorzustossen, oder ob ich mich nicht besser wieder in bekannten Gefilden bewegen und mich dem Leben B stellen soll. Die Tatsache, dass die unbeschwerten Zwanziger sich dem Ende zu neigen (snieff!), verschärft die kritische Stimmung jeweils zusätzlich. Ich habe längst damit begonnen, mein wahres Alter zu verschleiern und etwas undeutlich zu sprechen, wenn ich danach gefragt werde. Glücklicherweise schätzen mich die Leute in der Regel weitaus jünger ein, und ich verzichte meist grossmütig darauf, den Irrtum zu korrigieren. Wenn ich bedenke, dass den Leuten angesichts meines geschätzten Alters zwischen zwei- und fünfundzwanzig das Verständnis abgeht, wieso ich keine Absichten hege, mich im sicheren Hafen der Ehe einzudocken und mit einer Schar Kinder zu umgeben, muss ich ab nächstem Monat zur aktiven Lüge greifen. Mit 30 ist man als Frau in der hiesigen Auffassung bereits halb verwest.

Trotz allem ermangelt es mir nicht an Heiratsanträgen, die mir oft spontan und völlig unverhofft auf der Strasse gemacht werden. Eine weisse Frau zu haben, ist etwas ganz Exklusives und bringt einen wirtschaftlichen Vorteil mit sich, oder wenigstens ein Visum in den Westen. Dass eine solche Beziehung aufgrund kultureller Gegensätze und völlig unterschiedlicher Vorstellungen von einer Ehe niemals auch nur im Ansatz funktionieren würde, fällt den meisten gar nicht erst ein. Liebesheiraten sind im indischen Gesellschaftssystem nicht vorgesehen und sind äusserst selten. Die autoritäre Herrschaft der Familie verhindert nicht nur eine freie Partnerwahl, sondern überhaupt die Möglichkeit, jemanden kennenzulernen. Dies wird auch in gebildeteren Schichten kaum als Gängelung empfunden. Vorherrschend ist die Meinung, dass das Diktat der Familie gerechtfertigt sei und die Eltern besser wüssten, was gut sei für einen selbst. Heiratsannoncen in Zeitungen werden ausschliesslich von den Eltern aufgegeben. Im Vordergrund stehen nicht etwa charakterliche Eigenschaften, sondern Vermögensverhältnisse, berufliche Stellung und Kastenzugehörigkeit. Natürlich müssen die Kandidaten zudem jung und hübsch sein. Anbieter von Sprösslingen in bereits vorgerücktem Alter (Mitte Zwanzig) bestehen jeweils darauf, dass ihr Kind wesentlich jünger aussieht. Interessen werden dann gebeten, neben den üblichen Bewerbungsunterlagen mit Foto zusätzlich ihr Horoskop einzureichen. Der elterlichen Macht übergeordnet sind nur die Sterne, nach denen nicht nur das Mass der Übereinstimmung festgestellt wird, sondern auch das ideale Hochzeitsdatum festgelegt wird. (Die optimale Geburtsstunde des unabhängigen Indiens wurde übrigens auch von Astrologen berechnet.) Herrscht eine zufriedenstellenden Übereinstimmung, können die Mitgiftverhandlungen aufgenommen werden, die eine nicht zu unterschätzende Hürde auf der Zielgerade ins Eheglück darstellen können. Es soll vorkommen, dass das Heiratsgeschäft aufgrund von Unstimmigkeiten, austehenden Zahlungen oder Geschenken in letzter Minute nicht zustande kommen.

Ganz schwer auf dem Heiratsmarkt haben es Witwen. Obwohl Sati, die Lebendverbrennung der Frau auf dem Scheiterhaufen ihres Ehemannes heute offiziell nicht mehr praktiziert wird, scheint offenbar noch immer die Meinung vorzuherrschen, dass die Verehelichung einer Witwe an Obszönität der Nekrophilie gleichkommt.

Ich hätte übrigens die Gelegenheit gehabt, auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen, wenn es Tanz gegeben hätte. Da gewisse Daten von der Sternenkonstellation her günstiger sind, kommt es zu einer Häufung von Eheschliessungen am selben Tag. So war ich einmal zu drei Hochzeiten gleichzeitig eingeladen und musste - wie viele andere - von einer zur anderen rotieren, um niemanden zu enttäuschen. Keines der drei Feste war jedoch ausgelassen und fröhlich. Die Stimmung war äusserst flau, vermutlich nicht zuletzt deswegen, weil keine der drei Gesellschaften gemerkt hat, dass man ohne Alkohol nicht lustig sein kann. Essen wurde dafür reichlich serviert, zur Abwechslung gab’s wieder einmal Reis mit verschiedenen Beilagen. Zwischen den Mahlzeiten sassen alle den Wänden entlang am Boden. Im Unterschied zur ersten Tanzstunde waren auf der gegenüberliegenden Seite jedoch keine Männer, sondern ebenfalls Frauen. Die männlichen Gäste befanden sich in einem anderen Raum oder Haus. Zusätzlich zur strikten Geschlechtertrennung sehen sich die Gäste des Bräutigams und diejenigen der Braut nie. Das sind zwei gänzlich getrennte Anlässe. Erst ganz am Schluss des zweiten oder dritten Tages kommt der Bräutigam mit einer kleinen Gefolgschaft, um die Braut zu sich zu holen. Eine der Bräute heulte zu diesem Zeitpunkt lauthals und herzzerreissend. Doch das hat ihr nichts genützt, die Mutter schleifte sie gnadenlos aus dem Raum, während die anderen Frauen irgendwelche Sprechchöre von sich gaben. Die Gesellschaft war grundsätzlich etwas unzufrieden mit der Braut, die sich zwei Tage lang still die Schminke vom Gesicht weinte. Die andere Braut machte auch nicht eben einen glücklichen Eindruck, obwohl sie betonterweise eine Liebesheirat einging, was in diesem Fall nicht heisst, dass sie ihren Zukünftigen kannte, sondern dass sie ihn bereits ein paar Mal gesehen hat - natürlich mit dem nötigen Sicherheitsabstand. Bei der dritten Hochzeit gehörte ich zur Gesellschaft des Bräutigams. Ob wenigstens der Mann sich bei seiner Hochzeit amüsiert, kann ich jedoch nicht beurteilen, da ich den Bräutigam nie zu Gesicht bekam. Allen Hochzeiten gemein war der Brauch, bei den Mahlzeiten verstohlen etwas von den Gerichten in ein mitgebrachtes Säcklein verschwinden zu lassen. Ich war etwas peinlich berührt vom Verhalten meiner Essnachbarinnen, mit denen zusammen ich um eine Schüssel herum gruppiert sass, aus der man mit den Händen ass, liess mir jedoch später erklären, dass das durchaus seine Richtigkeit habe, weil man schliesslich Auslagen für die Geschenke hatte!

Fünf Monate Indien zusammenfassend abzuhandeln, ist nicht einfach. Das Land ist gross, die Gegensätze krass. Ein indischer Schriftsteller, dessen Name so unaussprechlich ist, dass man ihn gleich wieder vergisst, hat einmal gesagt, dass keiner ein Recht habe, in Indien zu leben, der nicht fünfzig Leprakranke, alle in einem unterschiedlichen Stadium des Verfaulens, emotionslos gegenüberstehen kann. An den Anblick zerlumpter und verkrüppelter Gestalten gewöhnt man sich erschreckend schnell, ebenso an die beissenden Gerüche von Abfallbergen, in denen Ratten und Menschen wühlen, und den Gestank von offenen Kloaken entlang der Hausmauern. Bereits mehr Mühe habe ich mit dem Schleim, der in einem geräuschvollen Reinigungsritual hochproduziert und einem vom Tisch-, Bus- oder Zugnachbarn vor die Füsse gespuckt wird. Das Kauen von Tabakblättern und roter Betelnuss ist eine andere üble Sitte. Die Gewohnheitskauer erkennt man leicht an den roten Zähnen, die übler aussehen als beim Kariestest. Da die ganze Ladung irgendwann wieder raus muss, sehen öffentliche Plätze, Hausmauern und Treppen aus, als ob jemand dort geschlachtet worden wäre.

In bleibender Erinnerung sind jedem die viel zu vielen Leute. Wo immer man sich hin bewegt, muss man sich durch eine Menschenmenge hindurch kämpfen. In den Basaren gibt es oft überhaupt kein Vorwärtskommen; öffentliche Verkehrsmittel sind zu jeder Tageszeit bis zum Bersten vollgestopft, überall ist es laut und lärmig.

Selbst Tempel haben nichts mit kirchlicher Andacht zu tun. Im Innern herrscht reges Treiben und ein hoher Geräuschpegel. Lauthals werden Waren aller Art angepriesen und es wird um Preise gefeilscht. Der Geruch von Räucherstäbchen und Blumen dringt in die Nase und der penetrante Klang eines Blasinstrumentes in die Ohren. Der eigentliche Gottesdienst besteht darin, sich vor einer der unzähligen Steinfiguren in die Schlange zu stellen, dem Mann im langen weissen Lendenschurz und einer Schnur über der Schulter einen Geldschein in die Hand zu drücken, damit dieser einem im Gegenzug mit etwas Wasser besprenkelt und einen Farbtupfer auf die Stirne schmiert und dabei unverständliche Worte leiert. Gratis gibt es grundsätzlich nichts. Beim Eingang zum heiligen Wallfahrtstempel in Südindien ist eine Liste von fixen und betonterweise nicht verhandelbaren Preisen für die verschiedenen Segnungen angebracht. Von wegen spirituelles Indien, in dem sich alle zur Meditation in die Berge zurückziehen und materielle Gelüste längst überwunden haben! In den meisten Haushalten hängt ein Bild von Laxmi, der Göttin des Wohlstands, die sich grosser Beliebtheit erfreut und mehrmals täglich beräuchert wird.

Ein ebenso grosser Mythos ist, dass alle Hindus Vegetarier seien aus Angst, den verstorbenen Grossvater, der sich nicht so gut benommen hat, zu verspeisen. Zur Reinkarnation gibt es unterschiedliche Auffassungen. Zumindest im hinduistischen Pantheon gehört es jedoch offenbar zum guten Ton, in mehreren Inkarnationsformen auf der Erde zu erscheinen, was es dem Laien nicht eben erleichtert, einen Überblick über die Vielzahl von Göttern zu gewinnen. Vor wenigen Monaten war ein ganzer Stadtteil von Bombay ausser Rand und Band, als ein Ferkel mit zu grossen Ohren auf die Welt kam und alle glaubten, es handle sich dabei um die Wiedergeburt von Ganesh, dem Elefantengott.

In grossen Tempeln werden täglich bei Sonnenauf- und -untergang mit grossem Aufwand und Volksaufmarsch riesige Prozessionen veranstaltet. Das Idol wird aus seiner Nische geholt, mit Blumen und Farben geschmückt, gefolgt von einer tobenden, heulenden, singenden Menschenmenge etwas herumgetragen und nach dem Tempelrundgang wieder zur Ruhe gebettet.

Bei so viel Götzenkult dürfen sich die Inder nicht wundern, wenn regelmässig die Sintflut vom Himmel gesandt wird. Der Monsun setzte ein, als ich in Bombay war, und es hörte nicht mehr auf zu regnen. Innerhalb weniger Stunden haben sich Strassen in reissende Flüsse verwandelt, die halbe Wohnungseinrichtungen mit sich führten. Der Verkehr war teilweise völlig blockiert und es hiess, aus dem Bus aussteigen und selbst weiterschwimmen. Mir kam das Wasser bis über die Hüfte, von den Kleingewachsenen war bald nichts mehr zu sehen, es blieb lediglich die Hoffnung, dass sie daran gedacht hatten, den Schnorchel einzupacken. Während der ersten paar Tage herrschte Freude über den Regen. In jeder grösseren Pfütze begannen sogleich Kinder, fröhlich zu baden. Nach einigen Wochen Dauerregen war die Euphorie spürbar abgeklungen. Ein Regenschirm bot nur unzureichenden Schutz vor den Wassermassen aus allen Richtungen, und es war unvermeidlich, dauernd völlig durchnässt zu sein. Sich fortzubewegen war äusserst mühsam, Reisezeiten verdoppelten sich, weil der Verkehr auf die wenigen nur mässig überfluteten Strassen umgeleitet werden musste. Ganze Stadtteile standen unter Wasser, weil es in der Trockenzeit nicht so dringend erschien, Senklöcher zu graben. Schlimm erging es den Slumbewohnern, die knietief durch den Schlick und Schlamm wateten und in ihren behelfsmässigen Behausungen wohl kaum eine trockene Ecke fanden. Positiv war, dass die Temperaturen um zehn Grad sanken, was jedoch durch eine erhöhte Luftfeuchtigkeit ausgeglichen wurde. Bombay ist die einzige indische Stadt, die wenigstens im Ansatz so etwas wie ein Nachtleben hat, weshalb es mir dort trotz der Dauernässe nach all den Entbehrungen bei den Moslems gefiel.

Wusstet Ihr übrigens, dass Bombay den Übernamen Bollywood trägt, weil dort weltweit die meisten Filme produziert werden? Die Quantität ist jedoch der Qualität sehr abträglich. In seiner Schöngeistigkeit ist der typische Hindi-Film etwa auf dem Niveau deutscher Heimatfilme anzusiedeln. In die dürftigen Handlungen mit viel Herz-Schmerz, Klischees und Pomp werden mehrere völlig aus dem Zusammenhang gerissene Sing- und Tanzszenen eingeschoben, die sich meist in einer Schweizer Alpenlandschaft (!) abspielen. Dass sich das schauspielerische Talent der Darsteller nie so recht zu entfalten vermag, muss damit zusammenhängen, dass sie maximal nur dreissig Filmrollen gleichzeitig annehmen dürfen. Der Topstar, dessen Hand ich das Vergnügen hatte zu schütteln, ist der Allrounder schlechthin. Den Bösewicht in einem Actionfilm spielt er nicht schlechter als den Liebhaber in einer romantischen Komödie. Leider hatte er keine Zeit, mir mehr zu seinem künstlerischen Wirken zu verraten, weil er für einen anderen Film zum nächsten Drehort eilen musste. Dumm kann er jedenfalls nicht sein, immerhin hat er richtig erraten, dass die Schweiz, wo er ja oft singt und tanzt, irgendwo in Europa liegt. Belgien ist zwar nicht unser Nachbarland, aber selbst indische Filmstars können nicht alles wissen. Die Inder lieben jedoch ihre Filme über alles und vergöttern die Stars, deren hübsche Gesichter Ruhm und Reichtum einbringen. Mein Kollege, auf dessen Drängen wir etwa zwanzig Leute bestochen hatten, um zum Star vorgelassen zu werden, war noch Stunden nach dem Händedruck völlig unansprechbar.

Das viele Geld, das ich in Indien abgehoben habe, habe ich nicht etwa versoffen, sondern einerseits als Starthilfe für ein eigenes Geschäft zur Verfügung gestellt, und andererseits habe ich in Delhi vier Brüdern geholfen, die meinetwegen ihre Wohnung verloren, weil sie mir angeboten hatten, bei ihnen zu wohnen. Dem Hausbesitzer passte es ganz und gar nicht, dass dort eine weisse Frau ein- und ausging, und kündigte ohne Vorwarnung mit einer dreitägigen Frist. Meine Gastgeber waren weitaus mehr darum besorgt, bei welchen Verwandten sie mich unterbringen könnten, als wo sie selbst bleiben sollten. Die Suche nach einer neuen Wohnung war übel und die Zahlungsbedingungen nur für Finanzkräftige. Zügeln in Indien macht hingegen Spass: Innerhalb weniger Minuten waren die paar Teppiche zusammengerollt und die wenigen Sachen in einem Taxi verstaut. Da hilft man gerne! Glück im Unglück war, dass zwei Tage nach dem Wegzug in dieser Strasse eine Bombe hochging und das halbe Quartier verwüstete. Der Verdacht fiel sogleich auf pakistanische Terroristen. Bis jetzt ist niemand darauf gekommen, dass ich das war.

Wie meine Reise weitergehen, weiss ich zur Zeit noch nicht. Es hat sich herausgestellt, dass es äusserst schwierig ist, von hier aus über Tibet nach China zu reisen. Deshalb werde ich vermutlich Richtung Süden und Wärme weiterziehen und nach Bangladesh, Burma und Thailand reisen. Es gibt noch eine andere Möglichkeit: Jemand hat mir einen Job angeboten, was ich zumindest prüfen werde. Die Aufgabe würde darin bestehen, ein kleineres Entwicklungsprojekt zu leiten. Genaueres kann ich allerdings im Moment noch nicht sagen. Vorerst gehe ich auf eine zweiwöchige Trekking-Tour - diesmal ohne Gefolge -, wo ich mich entscheiden werde. Darüber hinaus habe ich die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, den Jungbrunnen doch noch rechtzeitig zu finden!

Alles Liebe

Andrea