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Mail aus Delhi: Ich hoffe, nun endlich mein Versprechen einloesen und einen etwas ausfuehrlicheren Bericht schreiben zu koennen. Die infernalische Hitze des heutigen Tages erleichtert mir diese Aufgabe nicht eben. 45 Grad zeigte das Thermometer heute Mittag an. Zusammen mit dem Stossverkehr und der verschmutzten Luft nicht gerade das ideale Klima, um ueberhaupt einen Fuss ausser Haus zu setzen. Leider konnte ich meine Homepage nicht einsehen, weil der Server die Adresse nicht erkennen wollte. Bei dieser Hitze spinnt offenbar jeder und alles. Nach mehr als zwei Wochen Kashmir habe ich es letztlich entgegen allen Erwartungen geschafft, mich von meiner Gastfamilie loszueisen und mich auf den Weg zurueck Richtung Delhi zu begeben. Die Leute waren zwar ruehrend und ueberaus nett, aber nach einiger Zeit wurde es etwas zuviel des Guten. Das auf Pfaehlen erbaute Haus lag direkt an einem See, dessen Wasserstand zu jener Zeit so hoch war, dass man zuerst mit einem Boot an Land rudern musste. Sich irgendwo unbemerkt und alleine hinzubegeben, war ein Ding der Unmoeglichkeit. Die Mutter des Hauses ueberwachte alle meine Bewegungen im Haus und beim Verlassen eines Raumes musste ich jeweils Auskunft nach dem Wohin und Warum geben. Mit der Zeit behandelte sie mich wie ein Mitglied der Familie. Diese gutgemeinte Ehre ist als Frau jedoch mit dem Nachteil verbunden, dass man sich in die Hierarchie einfuegen muss und den ganzen Tag herumkommandiert wird. Als Grossmutter einmal auf Besuch war, wurde mir aufgetragen, mich in die Kueche zu begeben und Tee zu kochen, was ich selbstverstaendlich brav machte. Dummerweise mochte Grossmutter aus irgendeinem Grund meinen Tee nicht, spuckte den ersten Schluck wieder aus und gab der Tasse einene Stoss, so dass sich deren Inhalt auf den Teppich entleerte. Moeglicherweise wollte sie herausfinden, ob ich wenigstens putzen koenne, wenn ich es schon nicht verstehe, Tee zuzubereiten. Mich hat diese Geschichte eher amuesiert, aber einer in die Familie Eingeheirateten, die nicht so einfach wieder abhauen kann, duerfte das Lachen schnell vergehen. Nein, die Familie war wirklich sehr nett - ich tendiere in meinen Beschreibungen offenbar dazu, etwas sehr zu uebertreiben - und ihre Absichten waren bestimmt die besten. Aber fuer die Leute hier ist es offensichtlich schwierig einzusehen, wieso jemand fuer fuenf Minuten allein sein will. Sie fuehlen sich wohler, je mehr Personen sie um sich haben. Selbst wenn es in einem Haus mehrere Raeume gibt, verteilen sie sich zum Schlafen nicht unbedingt, sondern legen sich alle moeglichst nahe zusammen auf den Fussboden. Privatsphaere ist offensichtlich nicht gefragt. Ein Erlebnis besonderer Art war der notfallmaessige Spitalbesuch, - keine Angst, nicht wegen mir, sonst waere ich wohl kaum mehr in der Lage, diese Zeilen hier zu verfassen. Spaetestens dort bringen sie einen naemlich um die Ecke, falls man es mit letzter Lebenskraft ueberhaupt schaffen sollte, dorthin zu gelangen und eingelassen zu werden. Ohne etwas Kleingeld laeuft naemlich ueberhaupt nichts. Wer dem Portier beim Eingang nichts abgeben kann, der bleibt eben draussen. Gelegenheit, einen Einblick in ein indisches Spital zu erhalten, gab mir der ploetzliche Zusammenbruch der Mutter. Um zur Notaufnahme zu gelangen, mussten wir ueber rostige Leitungsrohre steigen. Der gerammelt volle Vorraum wurde offensichtlich seit geraumer Zeit nicht mehr gewischt. Als wir endlich drankamen, rauchte der diensthabende Arzt zuerst gemuetlich eine Zigarette. Den Stummel schmiss er in ein Plastikbecken, wo er sich zu anderen im blutigen Wasser oben aufschwimmenden organischen Objekten gesellte. Ich konnte nicht ausmachen, ob das Problem so schnell analysiert werden konnte oder ob es fuer saemtliche Leiden eine Einheitstherapie gibt. Jedenfalls waren wir eine Spritze spaeter wieder draussen, die in der Tat Wunder gewirkt hat. Innerhalb weniger Stunden war Mutter fast wieder die Alte und bereits wieder genuegend bei Kraeften, um ihren Platz in der Kueche einzunehmen. Indien und Pakistan gehoeren uebrigens zu den wenigen Laendern, in denen Frauen eine geringere Lebenserwartung haben als Maenner. Da ich schon mal in den Bergen war, wollte ich unbedingt fuer einige Tage trekken gehen. Die Familie organisierte ein Zelt fuer mich, das mir jemand am Morgen des Abmarschs vorbeibringen sollte. Dass sie mich nicht ohne den aeltesten Sohn gehen lassen wuerden, war mir klar, aber mit dem Personalaufgebot, das sich einfand, hatte ich nicht gerechnet: ein Koch, zwei Traeger und ein Chauffeur, der uns bis zum Ausgangsdorf kutschierte und dort drei Tage auf uns wartete. Das beste war das Maultier, das sie mir bereitstellten, damit die arme, alternde Ma'am Sahib auch ja keinen Schritt gehen musste. Nach bereits einem Tag konnte ich in der Tat kaum mehr gehen - sitzen im uebrigen auch nicht. So waren wir doch eine rechte Gruppe zusammen, und ich bin in den Hochtaelern des Himalaya nicht vereinsamt. Der Kashmir ist durchaus huebsch und gleicht landschaftlich den Schweizer Alpen. Die hohe Militaerpraesenz und die zahlreichen Check-Points schaffen jedoch eine eher ungemuetliche Atmosphaere. Nach Sonnenuntergang herrscht Ausgangssperre, was deshalb nicht so schlimm ist, weil es keinen Ort gibt, wo man ausgehen koennte. Wie wenn die Kriegsstimmung allein nicht genuegend deprimierend waere, ist der ganze Landesteil unter Prohibition gestellt und Saemtliches verboten, das irgendwie Freude bereiten koennte; keine Lokale, keine Musik, kein Tanz. Rein vom kulturellen Angebot her gibt es enorm viele Parallelen zu Pakistan, was man jedoch niemandem sagen darf. In der Tat kam es zu einigen Kampfhandlungen an der Grenze, die jedoch nichts mit der kaschmirischen Sache zu tun haben. Der Zankapfel zwischen Indien und Pakistan will naemlich zu keinem der beiden Staaten gehoeren, sondern unabhaengig sein. Es ergaben sich jedoch weitaus weniger politische Diskussionen, als ich mir erhofft hatte. Die Leute sind nicht so sehr gewillt, mit Fremden ueber die angespannte Lage zu sprechen. Die Familie, bei der ich zu Gast war, sagte mir im nachhinein, dass sie mich nicht unnoetig aengstigen wollte und gedacht habe, ich wuesste nichts ueber den politischen Konflikt. Vielmehr wollten mir alle Leute mitteilen, dass der Kaschmir die "Schweiz von Indien" genannt wird, was sie mit ungemeinem Stolz erfuellt. Rein landschaftlich haetten durchaus nostalgische Gefuehle in mir aufkommen koennen. Aber das Heimweh ist mir spaetestens dann vergangen, als ich es wieder einmal mit schweizerischem Beamtentum zu tun hatte. In Islamabad musste ich einen neuen Pass beantragen, da sich im alten keine freie Seite fuer das indische Visum mehr fand. Von keinem Geringeren als dem Schweizer Botschafter persoenlich musste ich mich belehren lassen wie ein kleines Schulkind. Anstatt mir schlicht und einfach zu sagen, wieviel und bis wann, entruestete er sich darueber, wie jemand nur so unvorbereitet auf eine Weltreise gehen koenne. Ich haette das voraussehen muessen, schliesslich sei ich ja nicht das erste Mal im Ausland. Ich finde diese Anschuldigungen sehr ungerecht, habe ich doch bereits Jahre zuvor meine Reise auf das Minuzioeseste geplant gehabt. In der Tat konnte ich nicht voraussehen, dass ich im Iran viermal eine Verlaengerung des Visums erkaempfen musste, die nicht nur unnoetig viel Zeit und Nerven sondern allmaehlich auch die restlichen Seiten im Pass auffrass. Der neue Pass wurde mir schliesslich ausgestellt, womit das Leiden keineswegs ein Ende fand. Die pakistanischen Behoerden wollen naemlich auch genau sein und verlangten einen Transfer des Visums vom alten in den neuen Pass. Der kafkaeske Kampf auf verschiedenen Ebenen des pakistanischen Staatsapparates nahm fast zwei Wochen in Anspruch. Waehrend meines unfreiwillig langen Aufenthaltes machte ich die Bekanntschaft eines jungen Mannes, der mich sogleich einlud, bei seiner Familie zu wohnen. Das Haus lag in einem der nobleren Quartiere etwas ausserhalb der Stadt. Ich habe mich gut in das Familienleben eingefuegt, einzig mein Umgang mit dem Dienstpersonal gab Anlass zur Beanstandung: ich sei viel zu nett, die muesse man etwas antreiben, sonst wuerden sie faul. Ueber den Wunsch vieler seiner Landsleute, ins Ausland zu gehen, um zu arbeiten, konnte mein Gastgeber nur den Kopf schuetteln. Die haetten ja alle gar keine Ahnung, wie hart das Leben im Westen sei, dort muesse man naemlich alles selber machen und koenne sich keine Bediensteten leisten. Es war wirklich schoen, unter so sozialkritisch eingestellten Leuten zu weilen, die am Puls ihrer Mitmenschen fuehlen koennen. Von Islamabad aus bin ich schliesslich in Richtung Nordwesten weitergezogen. Die Gegend entlang der afghanistanischen Grenze wird von verschiedenen Volksstaemmen beherrscht und gehoert nicht mehr wirklich zum pakistanischen Rechtsgebiet. Die dort lebenden Leute haben ihre eigenen Gesetze und auch die Mittel, diese durchzusetzen. Auf dem Schmuggler-Basar in Peshawar gibt es nichts, das nicht zu einem Spottpreis zu haben waere. Eine Kleinstadt ca. 100 km suedlich hat auf das Waffenhandwerk spezialisiert, das die Vaeter ihren Soehnen ueber Generationen weitergegeben haben. Entlang der Hauptstrasse im Zentrum saeumen sich kleine Werkstaetten, in denen nachgebildete Waffen aller Art angeboten werden. Die Verkaeufer, ueberaus freundliche Leute, sehen nichts dabei und praesentieren ihr Arsenal voller Stolz. Eine kopierte Kalaschnikow mit Seriennummer ist bereits ab hundert Dollar zu haben, Luftabwehrraketen sind etwas teurer. Der absolute Renner ist jedoch eine Waffe in Kugelschreiberform, aus der jedoch nur ein Schuss abgefeuert werden kann, weshalb ich letztlich doch von einem Kauf abgesehen habe. Wie in jedem anderen Laden trinkt man zusammen etwas Tee, fragt nach der Familie und diskutiert nebenbei ueber Geschaeftliches. Etwas irritierend dabei sind jedoch die Testschuesse, welche die ansonsten gemuetliche Stimmung und andaechtige Stille zerreissen. Die Kundschaft stammt nicht nur aus Afghanistan, die lokalen Staemme haben untereinander genuegend Fehden, die sie gewaltsam austragen. Die Pathans sind nur eine der unzaehligen Volksstaemme, welche das Gebiet bewohnen. Mit Sicherheit sind sie jedoch die mit Abstand bestaussehenden Maenner, denen ich je begegnet bin. Erhaben stolzieren die hochgewachsenen und vielfach blauaugigen Stammesleute mit Truban und Umhang durch die Strassen. In Peshawar gibt es einen riesigen Basar, auf dem ausschliesslich Schmugglerware aller Art offen angeboten wird. Es gibt nichts, das dort nicht zu einem Spottpreis erhaeltlich waere. Haupteinnahmequelle fuer viele ist natuerlich der Drogen- und Waffenhandel nach oder via Afghanistan. Dass dieses Geschaeft sehr eintraeglich sein muss, ist lediglich daran zu erkennen, dass vor vielen der einfachen Huetten ein Mercedes steht. Die Inneneinrichtung dagegen wird traditionell einfach gehalten, und die Frauen waschen die Kleider nach wie vor im nahegelegenen Fluss. Von Peshawar aus bin ich Richtung Nordosten weitergereist, wo sich die Gebirgszuege des Hindukusch, Karakoram und Himalaya befinden. Vor zwanzig Jahren wurde der spektakulaere Karakoram Highway fertiggestellt, der Paksitan mit China verbindet. Die Bezeichnung "Highway" ist jedoch etwas irrefuehrend, es handelt sich vielmehr um eine schmale, holprige Passstrasse, auf der jede Kurve und jedes Ueberholmanoever zu einer Zitterpartie wird; vorbei an Lastwagen, die in dicke, schwarze Wolken gehuellt den Berg hinaufschnaufen, kleinen Doerfern und Gruppen am Strassenrand kauernder Maenner mit Gesichtern von Zirkuszuschauern waehrend eines Drahtseilaktes darauf zu warten scheinen, dass unserem Bus dasselbe Schicksal beschert ist wie einem der vorangehenden, dessen Wrack in der Tiefe des Industal zu sehen ist. Falls irgend jemand aus der Verwandtschaft sich entruesten sollte, warum ich Simus Grab nicht besucht habe, die Gegend um den K2 liegt im Maerz noch in tiefstem Schnee. Ebenso verhaelt es sich mit den meisten Trekking-Gebieten, die erst im Juni zugaenglich werden. Ich habe mich trotz Schnee fuer einige Tage mit Sack und Pack in eines der abgeschiedenen Taeler verzogen, die nur zu Fuss zu erreichen sind. Manchmal waren Schafe und Yaks ueber laengere Strecken die einzigen Lebewesen, die ich antraf. Die Bewohner der wenigen, kleineren Doerfern reagierten ganz unterschiedlich auf mein Daherkommen. Am schlimmsten empfand ich es, wenn die Kinder bei meinem Anblick gleich davonrannten und mir erst aus einem sicheren Versteck etwas Unverstaendliches zuriefen. Am zweit schlimmsten war es, wenn sich die Leute wortlos um mich herum versammelten, mich waehrend Minuten mit grossen Augen anstarrten, weder Gruss noch Laecheln erwiderten und mir noch lange nachsahen. Da war es mir lieber, wenn mich Kinder freudig bedraengten, Ihnen Suessigkeiten auszuhaendigen, und ich sie dafuer kaum mehr loswurde. Die Northern Areas sind ethnisch aeusserst vielfaeltig. Fast jedes Tal wird von einer anderen Volksgruppe bewohnt, die sich anders kleidet, eine eigene Sprache spricht und nur zufaellig zu Pakistan zu gehoeren scheint. Den Karkakoram Highway zurueck nach Islamabad bin ich in einem Jeep hinuntergerast zusammen mit einem Bekannten, der ebenfalls in die Hauptstadt musste und alles aus seinem Fahrzeug herausholte und mir keine Schreckensminute ersparte. (Beim Piloten handelt es sich im uebrigen um die schwangere Bergente in Gwaendli und mit Jeep.) Leider habe ich eine Verabredung und sollte gehen. Ich bin noch immer schweizerisch genug, puenktlich zu erscheinen, werde dafuer vermutlich eine Stunde oder mehr Wartezeit in Kauf nehmen muessen. Morgen werde ich Delhi verlassen und der Hitze zum Trotz Richtung Sueden abreisen. Ich muss unbedingt den Monsun sehen, der in einem Monat an der Spitze ganz unten einsetzen soll. Ich werde versuchen, mich zusammenzureissen und mich bald wieder zu melden. Sorgen braucht ihr Euch keine zu machen, Indien ist punkto Kriminalitaet wesentlich sicherer als Europa. Liebe Gruesse an alle. Andrea |