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Istanbul, Türkei, 11.12.97 Am besten beginne ich ganz von vorn und berichte chronologisch. Am Tage des ersten Schneefalls im November a.d. 1997 bestieg ich den Zug Richtung Osten, verpasste weder den Anschluss in Zürich, noch in Wien, noch in Nis. Eine gänzlich ereignislose Zugreise, wäre da nicht der Kroate gewesen, der mich von Buchs bis Salzburg unablässig mit Sachen belaberte, von denen ich nur einen Bruchteil verstand, was ihn jedoch in seinen Ausführungen nicht beirren konnte. Er begnügte sich mit einem hilflosen Lächeln meinerseits und klopfte mir nach jedem Wortschwall kollegial auf die Schulter, lachte lauf auf und holte zu einer neuen Kaskade aus. Bis Wien konnte ich mich genügen erholen, um es mit einer Horde Serben aufzunehmen, die zu einem Hochzeitsfest nach Belgrad unterwegs waren und ihre Verfreude kräftig begossen. Natürlich liessen sie mich an ihrem Fest teilhaben - nette Leute, diese Serben. Ab Belgrad war es dann äusserst ruhig, so ruhig, dass die Beamten bei der unerwarteten Ausweiskontrolle im Landesinneren genügend Zeit fanden, jeden Stempel in meinem Pass ausführlich zu erörtern. Zu jedem Land wollten sie wissen, wie es dort aussehe, was es dort alles gäbe, ob die Leute reich seien, usw. Der bulgarische Zollbeamte hingegen interessierte sich mehr für den Inhalt meines Gepäcks. In einem harschen Ton liess er sich alles herauslegen und untersuchte jeden Gegenstand minuziös. Besonderes Interesse fanden die Toilettenartikel, er öffnete jede Schachtel und zerlegte selbst ein Tampax in seine Einzelteile. Als ich ihm seine Frage nach dem Nutzen in seinem bruchhaften Russisch erklärte, war er doch etwas betreten und versuchte darauf verzweifelt, die einzelnen Teile wieder zusammenzusetzen mit den Worten, er werde alles wieder flicken. Ooh, armer Bulgare aus dem Land der Knappheit. Mit nur vier Stunden Verspätung kamen wir in Istanbul an. Um die Verabredung mit meinem geschäftsreisenden Kollegen einzuhalten, stieg ich direkt am Bahnhof in ein Taxi. Mit dem Geld, das ich dem Fahrer nach endloser Irrfahrt durch schmale Gassen hinüberschob, hätte ich locker die ganze Türkei durchquert. Im übrigen wäre ich zu Fuss um einiges schneller gewesen, wie msich im nachhinein herausstellte. Dafür hätte ich gewisse Stadtteile gar nie zu Gesicht bekommen. Ich habe nahezu eine Woche gebraucht, um mich an die hiesige Währung zu gewöhnen. Die hohe Inflationsrate bringt grosse Zahlen auf den Geldscheinen mit sich. Wie ein Depp stand ich jeweils im Laden und versuchte, die Banknote mit der richtigen Anzahl Nullen aus dem Knäuel herauszufischen. Sobald die Verkäufer merken, dass da Eine Nullen zählt, werden sie sehr hilfsbereit bei der Auswahl der adäquaten Banknote. Ich kam zum Schluss, dass das Preisniveau in der Türkei deutlich über dem schweizerischen liegen muss. Istanbul ist eine gigantische Stadt, die in ihrer Grösse kaum fassbar erscheint. Ich habe mir sagen lassen, dass der Verkehr punkto Chaos selbst Kairo übertrifft. Der herrschende Sozialdarwinismus auf der Strasse macht das Dasein las Fussgänger zum täglichen Abenteuer. Grünlicht gibt keine Gewähr zum sorglosen Überqueren einer Strasse, weil sich die Autofahrer durch ein Rotlicht kaum beeindrucken lassen. Selbst in kleinen Gassen muss man sich vorsehen, und man ist sich selbst lieb, rechtzeitig auszuweichen, sei dies vor einem hupenden Fahrzeug oder einem Händler, der einen grossen Standkarren vor sich hinschiebt. Ein manövrierendes Auto hat immer Vortritt, ob es nun aus einer Parklücke, Einfahrt oder Seitenstrasse kommt. Alle anderen haben zu warten, bis das Manöver abgeschlossen ist, was in einer engen Gasse durchaus einige Zeit dauern kann. Strassenmarkierungen haben rein dekorativen Zweck, weil die Spurenbreite gegenüber der Breite eines Durchschnittswagens überdimensioniert ist und der leere Zwischenraum durch Zusammenrücken genutzt werden kann. Im Verkehr herrscht grundsätzlich Chaos, plötzlich ist alle blockiert und niemand weiss wieso, dann ruckt es aus ebenso unerfindlichen Gründen etwas weiter, und wie durch ein Wunder gelangt man schliesslich doch an seinen Zeilort. In Istanbul zu leben ist äusserst nervenaufreibend, auf den Hauptverkehrsadern ist man oft schneller zu Fuss als in einem vollgestopften Bus, die Distanzen sind jedoch lang, und es kostet viel Zeit, um von einem Ort zum anderen zu gelangen. Beim Versuch, eine dicht befahrene Strasse zu überqueren, war ich zu Beginn noch naiv genug zu glauben, das Halten eines Wagens am Strassenrand sei ein Akt von Nächstenliebe. Zu spät habe ich jeweils bemwerkt, dass das haltende Fahrzeug ein Taxi war und ich miene Existenzberechtigung verlor, sobald sich der Fahrer gewahr wurde, dass ich lediglich die Strasse zu überqueren wünschte und kein potentieller Fahrgast war. Weil das Fortkommen in Istanbul relativ mühsam ist, habe ich mich während der letzten zwei Wochen kaum noch aus dem Quartier, in dem ich lebte, fortbewegt. Das Quartier ist direkt am Bosporus gelegen und sehr zentral (übersetzt: etwas mehr als eine Stunde vom Stadtzentrum). Hier und in den umliegenden Distrikten leben vor allem Musiker, Schriftsteller, Maler. Hierhin verschlagen hat es mich deshalb, weil ich am zweiten Tag meiner Ankunft, kurz nachdem mich mein Kollege aus Burgdorf zurückgelassen hatte und ich mich aufmachte, eine meinen Verhältnissen angepasste Bleibe zu suchen, an der Bushaltestelle mit dem Kopf einer Reggae-Band ins Gespräch kam. Er hat mich sogleich eingeladen, Gast in seiner Wohnung zu sein. Durch ihn und durch andere lernte ich viele neue Leute kennen und durch diese wiederum andere. Es ergab sich eine Kette von Bekanntschaften, jeden Tag war bei jemandem zu Hause oder auch auswärts etwas los. Es war eine tolle Zeit, und es fiel mir schwer, Abschied zu nehmen. Dennoch war es an der Zeit aufzubrechen, um mir das Land anzusehen, in das es mich verschlagen hat. Da in meiner sozialen Umgebung alle ausschliesslich oder genügend Englisch sprachen, kam mein anfänglicher Effort, Türkisch zu lernen, nach zwei Wochen völlig zum Erliegen. Mehr als eine rudimentäre Basiskonversation liegt zur Zeit noch nicht drin - doch wir arbeiten daran. Zur Zeit befinde ich mich in einem kleinen Ort an der Ägäis südwestlich der grösseren Stadt Izmir. Im Sommer dürfte hier einiges los sein, nun wirkt es wie ausgestorben. Ausser mir scheint es keinen anderen Fremdem zu geben. Der Wind fegt kalt über die Bucht, und die Wassertemperatur ist wenig einladend. Beim Spaziergang durch das Städtchen habe ich heute ein Internetc@fe entdeckt und beim Eintreten bemerkt, dass man hier nicht alles wörtlich nehmen sollte. Der Besitzer findet den Namen originell, die Anschaffung eines Computers und ein Modemanschluss ist nicht geplant. Der Nutzen eines Computers scheint noch weitgehend unentdeckt. Steuerregister werden nach wie vor mit Karteikarten geführt. An einem bestimmten Stichtag haben sich alle an einer ihnen zugewiesenen Zahlstelle einzufinden und sind aufgefordert, den Steuerbetrag bar zu entrichten. Ein anderes heiteres Kapitel war die Volkszählung vom Sonntag, 30. November. Unter Strafandrohung war es allen türkischen Staatsangehörigen verboten, das Haus zu verlassen. Für jeden Bezirk wurde eine Person bestimmt, deren Aufgabe es war, an jeder Türe zu klingeln und zu zählen, wie viele Leute in diesem Haushalt wohnen. Unabhängig davon ging eine andere staatlich bestimmte Person von Tür zu Tür, um sozio-ökonomische Daten, die vor allen hinsichtlich der nächsten Wahlen interessant sein könnten, zu erheben. Die Regierung war nun dilettantisch genug, nicht ausreichend Formulare zu drucken, so dass nach der Mittagszeit die Order erlassen wurde, dass alle Frauen in den noch zu befragenden Haushalten als Hausfrauen aufzufassen seien und daher eine Befragung obsolet sei. Hier muss angefügt werden, dass der Frauenanteil in Führungspositionen dank den Reformen Atatürks über dem europäischen Durchschnitt liegt. Die Volkszählung war natürlich ein grosser Reinfall, wen wunderts. Die offiziellen Zahlen der Bevölkerung Istanbuls liegen je nach Quelle zwischen 12 und 20 Millionen. Selbst wenn man im Besitz einer genauen Adresse ist, kann man die richtige Türe kaum finden. Von Tür zu Tür zu gehen und mit Sicherheit zu sagen, welche zu einer Wohnung und welche lediglich zu einem Laden oder Lager führt, ist dagegen ein Ding der Unmöglichkeit. Das relativ zivilisierte Stadtzentrum ist das eine, noch ärger sind die illegitim bebauten Grundstücke am Stadtrand, wo die Zuwanderer aus Ostanatolien in notdürftigen Hütten hausen. Der Tag der Volkszählung war für die Ausländer paradiesisch, weil sie nicht unter Hausarrest standen und sich frei bewegen durften. Das ständig verstopfte Istanbul war leergefegt und es herrschte eine geisterhafte Stille. So stelle ich es mir vor, als Einzige einen Atomkrieg zu überleben. Niemand weit und breit, kein Auto, keine Hupe, alle Geschäfte geschlossen, in der Ferne vielleicht ein Hund, dessen Gebell im Grossstadtlärm untergegangen wäre. Dennoch war offenbar mehr los, als ich bemerkt hatte. In der Zeitung war zu lesen, dass sich in Istanbul während der Volkszählung acht Autounfälle ereigneten, fünft davon wurden durch Volkszähler verursacht - auf verkehrsfreier Strasse notabene. Von hier aus werde ich weiter nach Süden ziehen in der Hoffnung, doch noch etwas Wärme zu tanken, bevor ich zum Neujahrsfest nach Istanbul zurückkehre. Euch allen wünsche ich frohe Weihnachten und frohe Festtage. Ich für meinen Teil schätze mich glücklich, fernab von Weihnachtsrummel und christlicher Dekadenz zu weilen, ... . Der Muhezin wird wie an jedem anderen Tag fünfmal zum Gebet rufen und die hundert Namen Allahs preisen. Andrea |