Gespräch über den Zivildienst

"Ich möchte eigentlich ohne Umschweife gleich zu Beginn die entschiedende Frage stellen: Warum können, warum wollen Sie keinen Militärdienst leisten?"

"Ich habe früher schon erwähnt, dass es für mich gar nie ernsthaft denkbar gewesen ist, der Armee zuzugehören. Wann ich so zu fühlen und denken begonnen habe, ist schwer zu sagen. Manche Dinge weiss oder spürt man eben schon zu lange, als dass man noch feststellen könnte, wann man sie sich angeignet hat. Solche Gefühle, solches Wissen ist ein Teil von uns selbst. Ich kann dafür ganz einfache Beispiele geben: Seit wann wissen Sie, dass Menschen nicht fliegen können? Seit wann mögen Sie die Farbe Violett?

Aber ich sollte zu der gestellten Frage zurückkommen. Sie wollen wissen, weshalb ich nicht in die Armee eintreten kann. Man sollte sich vor der Antwort einmal überlegen, was diese Frage überhaupt bedeutet; Die Armee ist schlussendlich eine Organisation, die Ziele verschiedener Art dadurch zu erreichen versucht, dass sie Maschinen, Gebäude und vor allem Menschen vernichtet. Sie ist eigentlich eine "Behörde mit Auftrag zum Töten."

Hält man sich dies vor Augen, so möchte man die Frage, die Sie mir stellen, umdrehen: "Weshalb sollte jemand freiwillig einer Organisation beitreten, die ihre Ziele unter anderem durch das Ermorden von Menschen erreichen will?"

Ist es nicht eigentlich absurd, wenn ich mich dafür rechtfertigen muss, dass ich nicht lernen möchte, wie man sprengt, schiesst und schlägt? Sollten nicht vielmehr all jene nach ihren Motiven gefragt werden, die ohne Zögern in die Armee eintreten? Ich glaube, dass wir in unserer Gesellschaft soweit sein sollten, Gewalt nicht mehr als ein Mittel zur Lösung irgendwelcher Probleme zu akzeptieren. Nicht nur mein Verstand, sondern auch meine innere höhere Instanz erlauben mir nicht, zu einem Soldaten zu werden."

"Sie stellen das Ganze wohl etwas zu einfach dar. Erstens hat die Armee sehr vielfältige Aufgaben, und gerade in der Schweiz haben die wenigsten davon – oder gar keine – mit Gewaltanwendung zu tun. Ausserdem werden Sie ja nicht einfach "Soldat", Sie bleiben, wer Sie sind, aber zusätlich vollbringen Sie einen Dienst an der Allgemeinheit."

"Mir ist schon bewusst, dass die Schweizer Armee kaum je einen Kampfeinsatz sehen wird. Aber das ist völlig irrelevant. Mein Gewissen revoltiert gegen den grundsätzlichen Gedanken, einer Organisation anzugehören, zu deren Wesen Gewalt gehört. Ich finde es zum Beispiel auch dann falsch, sich eine Pistole zu kaufen, wenn man nicht damit rechnet, sie je zu benutzen. Das Konzept "Pistole" – oder eben das Konzept "Armee" – lehne ich ab, unabhängig davon, ob die Pistole oder die Armee je zum Einsatz kommt."

"Dennoch haben Sie einen Aspekt meiner Frage nicht beantwortet: Wollen Sie einfach übersehen, dass die Armee oft wertvolle Ziele verfolgt? Anerkennen Sie nicht, dass Sie etwa im Bereich Katastrohpenhilfe Wichtiges leistet, und denken Sie nicht, dass es Ihre Verantwortung wäre, auch einen Beitrag zu leisten?"

"Ich glaube nicht daran, dass der Zweck die Mittel heiligt. Wenn Sie als hehre Ziele die Katastrophenhilfe anführen, kann ich Ihnen nur zustimmen. Es ist wichtig, dass Menschen in solchen Situationen geholfen wird. Leider hat die Armee viele Ziele, die sich nicht mit Bagger und Schaufel, sondern nur mit Gewehr und Stiefelabsatz erfüllen lassen.

Zu den zivilen Aufgaben: Ich bin sehr dafür, dass man diese weiterhin erfüllt. Aber weshalb muss dies die Armee sein? Die Gelder, die das Militär heute für unglaublich teure Waffensysteme und Infrastruktur ausgibt, würden vermutlich mehr als ausreichen, eine wunderbare, professionelle Katastrohpenhilfe-Organisation aufzubauen. Auch alle anderen zivilen Arbeiten können gut und vielleicht sogar besser von zivilen Organisationen ausgeführt werden als von der Armee.

Schliesslich zu der persönlichen Verantwortung. Ich bin mir sehr bewusst, dass ich Mitverantwortung habe. In der gesichtslosen Massengesellschaft ist es sehr leicht und sehr verlockend geworden, sich nur noch um seine eigenen Interessen zu kümmern. Auch ich bin dieser Versuchung ausgesetzt, aber ich spüre, dass mein Gewissen mir nicht erlaubt, über Probleme und Nöte der Mitmenschen hinwegzusehen.

Rentner, die sich jeden Monat sorgen müssen, ob sie ihre Rente nicht verhungern lässt, Asylbewerber, die mit Herzklopfen den Facts-Titel "Ausländer raus!" lesen – ich wäre froh, Menschen wie diesen mit meinem Zivildienst ein wenig helfen zu können.

"Alles, was Sie sagen, klingt zwar sehr schön, geht aber doch eigentlich an der Realität vorbei. In manchen Sitationen kann es durchaus nötig werden, mit Gewalt etwas durchzusetzen. Das im Moment prominenteste Beispiel ist ja Ex-Yugoslawien. Sehen Sie nicht, dass in solchen Fällen die Armee nötig ist?"

"Es mag schon sein, dass vieles, was ich sage, an der Realität "vorbeigeht". Aber das ist nun mal so mit Idealen und Zielen, an die man sich halten möchte. Sie sind nicht real, sie existieren nicht wirklich, sondern sie zeichnen sich im Gegenteil gerade dadurch aus, dass sie nur in den Köpfen und wohl auch in den Herzen existieren. Dass die Welt schlecht ist bedeutet nicht, dass man sich nicht eine bessere Welt wünschen dürfte.

Ich habe bei Diskussionen oft das Problem, dass ich über Grundsätze und auf lange Frist anzustrebende Ziele spreche, während mein Gegenüber über die unmittelbare Situation spricht und diese konkret besprechen möchte. Vielleicht ist diese pragmatische Sichtweise akzeptierter und sogar nützlicher; Aber ich kann das ferne Ziel, nach dem ich strebe, einfach nie vergessen.

"Wie erklären Sie das einem Albanier, dessen Familie von den Serben ermordet wurde?"

Auch das Beispiel von Yugoslawien habe ich erwartet. Es ist eine gemeine Frage: Wer hat schon eine perfekte Lösung parat, mit der ohne weitere Gewaltanwendung der Balkan dauerhaft befriedet werden könnte? Niemand vermutlich.

Also ist es wohl nötig, Soldaten dorthin zu schicken. Aber das ändern nichts daran, dass im Idealfall gar nie jemand zu einer Waffe gegriffen hätte. Und auch nicht daran, dass Kriege überhaupt falsch und verbrecherisch sind. Ein amerikanischer Politkier hat einmal gesagt: Es gibt keinen guten Krieg und keinen schlechten Frieden."

"Offensichtlich gestehen Sie aber zu, dass in manchen Situationen Gewalt bei der Lösung von Problemen helfen kann?"

"Gewalt erzeugt immer Gegengewalt. Der Satz ist alt, aber er stimmt einfach. Und wenn man sich dies verdeutlicht, kann man schon allein aus reiner Vernunft erkennen, dass Gewalt keine Lösung sein kann. Viel wichtiger als die Vernunft ist aber das Gefühl, das Gewissen, das über allen Abwägungen und über allen rationalen Überlegungen steht. Es steckt in mir, über mir vielleicht, und es sagt: "Du kannst und darfst niemanden verletzen!"

Und es ist genug, dass mein Gewissen dies sagt. Es mag anmassend klingen, aber mein Gewissen ist meine letzte Instanz, nichts steht über ihm. Man könnte sagen, dass Gott über ihm stehe – viel eher aber ist das Gewissen Gott. Und wenn das Gewissen gesprochen hat, ist jede weitergehende verstandesmässige Überlegung nur eine Verzierung und Hinzufügung zu dem eigentlichen Entschluss."

"Um dieses Thema etwas zu konkretisieren möchte ich eine Frage stellen, von der Sie vermutlich auch schon wussten, dass Sie damit konfrontiert werden: Stellen Sie sich vor, Sie und Ihre Mutter würden von einem Einbrecher überrascht, der den Kopf verliert und eine Pistole zieht. Würden Sie in dieser Situation nicht selbst auf den Einbrecher schiessen, wenn Sie damit unter Umständen Ihr und Ihrer Mutter Leben retten könnten?"

"Zuerst einmal möchte ich sagen, dass solche konstruierte Situationen meiner Meinung nach in einer Diskussion nicht viel taugen. Ich kann mich an ein Spiel erinnern, dass ich als Kind immer gespielt habe. Man schilderte dabei einem Freund zwei unangenehme Situationen, aus denen er eine auszuwählen hatte, die ihm weniger schlimm erschien. "Möchtest du lieber einen Frosch küssen oder einen Wurm essen?" ist ein typisches Beispiel. Ihre Frage erinnert mich an dieses kindliche, sinnlose Spiel – auch wenn sie natürlich viel dramatischer und ernsthafter ist. Sie ist konstruiert und deshalb eigentlich nicht beantwortbar.

Was ich aber noch für viel schlimmer halte, ist die Absicht, die hinter dieser Frage steht. Es ist dieselbe, die schon hinter der "Yugoslawien-Frage" steckte, nur ist sie hier noch viel mehr auf mich als einzelne Person zugespitzt; Ich finde nämlich, dass mir mit dieser Frage meine Menschlichkeit geraubt werden soll!

Das muss ich vielleicht etwas erklären: Was kann ich auf die Frage antworten? Ich könnte antworten, dass ich es nicht über mich bringen würde, ein lebendes Wesen, ein Teil einer mir unerschliessbaren, einer in welchem Sinne auch immer "göttlichen" Schöpfung einfach auszulöschen. Das würde allerdings bedeuten, dass ich tatenlos zusehen würde, wie meine Mutter ermordet würde – und wer dabei einfach zuschaut, der muss wirklich ein Monster sein, kein Mensch.

Ich könnte auf die Frage aber auch antworten, dass ich den Einbrecher erschiessen würde. Dann wäre ich allerdings selbst ein Mörder, und hätte wohl ebenfalls meinen Platz unter den Menschen verloren.

Es ist also unwichtig, wie ich antworte – am Ende geht es schlicht darum, zu beweisen, dass ich nicht menschlich, sondern unmenschlich, bestialisch handeln würde. Es geht darum, mir meine Menschlichkeit zu nehmen, und eine Frage mit solch einem Hintergrund macht mich ehrlich gesagt sowohl wütend als auch traurig.

Ja, vielleicht würde ich in dieser Situation wirklich auf den Einbrecher schiessen – vielleicht auch nicht. Aber ist es denn so entscheidend, wie der Mensch in Extremsituationen handelt? Ja, er kann wohl wirklich zu einem Schlächter werden, er kann von seines Nächsten Bruder zu seines Nächsten Wolf werden. Aber ist es nicht wichtiger zu fragen, wonach er eigentlich strebt? Danach zu fragen, was sein Ideal ist, danach, wohin er sich entwickeln möchte?

Eigentlich halte ich ein paar kurze Sätze für zu kurz dafür, den Kern meiner bisherigen – vor allem wegen meines Alters noch bescheidenen – Lebensweisheit zu erklären, aber ich will es versuchen;

Der Mensch ist ein unvollkommen Wesen, in dessen Brust bekanntermassen zwei Herzen schlagen. Mein Biologielehrer hat es einmal so ausgedrückt: Mit den Füssen steht er noch in der Ursuppe, mit dem Kopf ist er schon über allen Wolken! In diesem Zwiespalt zwischen viehischen Instinkten und göttlichem Drang wird er dauernd hin- und hergerissen. Deshalb muss er das ganze Leben lang an sich arbeiten. Und deshalb wird er nie ohne Fehler sein.

Aber man wird dem Menschen viel eher gerecht, wenn man ihn danach fragt, wohin er gehen will, als danach, woher er kommt. Er kommt nämlich vom Tierischen, und er strebt zum Menschlichen. Ein Mensch zu werden ist meiner Meinung nach des Menschen höchstes Ziel."

"Wenn man Ihnen zuhört, merkt man, dass Sie sich viele Gedanken zum Thema gemacht haben. Das ist zwar positiv, aber es birgt auch eine Gefahr; Man kann sich nämlich fragen, inwieweit all das, was Sie sagen, einfach nur philosophische Theorien und im schlimmsten Falle Spielereien sind, die sich in Ihrem Kopf abspielen.

Anders gesagt: Hat Ihre Sache auch Herz, Hand und Fuss?"

"Ich weiss, dass nur Gewissensgründe zur Zulassung zum Zivildienst führen können. Ich habe deshalb auch lange gezweifelt, wie ich meine Argumente darlegen soll. Wenn ich versuche, sie logisch nachvollziehbar zu erklären, muss ja der Verdacht aufkommen, meine Beweggründe seinen rein politisch. Dennoch kann ich nicht einfach für die Dauer dieses Gesprächs mein Hirn abschalten.

Wenn ich einen Gedanken habe, und dieser Gedanke mir einleuchtend scheint, dann muss ich ihn auch ebenso einleuchtend wiederzugeben versuchen. Vielleicht wäre es überzeugender, wenn ich in Tränen ausbrechend nur noch undeutlich schluchzen würde. Aber ich besitze nicht nur Tränendrüsen und ein Herz, sondern auch einen Verstand, der immer ein Wörtchen mitreden will.

Dennoch: Ich habe ein Gewissen, eines, das sich laut bemerkbar macht. Dieses Gewissen kann ich aber niemanden unmittelbar spüren lassen, es wirkt in mir, und von aussen kann man es nicht sehen. Versuche ich es zu beschreiben, so muss ich sofort wieder analytisch und rational zu denken und zu sprechen beginnen. Gebe ich offen zu, dass man "ein Gewissen" gar nicht in Worte fassen kann, kann dies im schlimmsten Falle so verstanden werden, dass alle meine Worte nur aus kaltem Anwägen stammen.

Um doch noch eine Antwort auf die Frage zu geben: Ja, meine Sache hat Hand, Herz und Fuss. Und Bein, Bauch, Ohren, Augen, einen ganzen Körper. Denn ich bin meine Sache. Sie ist in mir und mit mir gewachsen wie der Rest meiner Persönlichkeit.

Was ich bisher gesehen, gehört und erlebt habe, hat mich zu dem gemacht, der ich bin. Und eben der kann nicht in die Armee eintreten. Wenn Sie es ihm nicht glauben, so kennen Sie ihn vielleicht nicht gut genug. Wie sollten Sie auch, nach einem so kurzen Gespräch? Ich leben schon über 20 Jahre mit ihm zusammen und ich wundere mich manchmal selbst noch über ihn."

"... Gesuch abgelehnt."
 

(c) 1998 Moritz Gerber