Die Zeit – Ein Blick durchs Schlüsselloch?

Einführung

Ein "Blick durchs Schlüsselloch" kann Verschiedenstes bedeuten; der Blick kann verboten sein, er kann sehr aufschlussreich sein, er kann enttäuschen oder bereichern. Im Titel dieses Textes sind all diese Aspekte (und speziell die mögliche anzügliche Lesart) nicht angesprochen.

Das "Schlüsselloch" im Titel soll zwei Dinge ins Bewusstsein rufen: erstens die sich einem bei solch einem Blick bietende Begrenztheit des Sichtfeldes, die grösse Mühe, die es erfordert, durch solch ein enges Loch hindurch wirklich etwas zu erkennen - die Unmöglichkeit nicht zuletzt, durch ein Schlüsselloch ein wirkliches Bild dessen zu gewinnen, was dahinterliegt. Zweitens die Fragestellung, die in diesem Text behandelt werden soll; "Wie erlebt der Mensch die Zeit?". Ob der Vergleich mit einem Blick durchs Schlüsselloch einleuchtet, wird sich weisen.

Aber wer wollte schon bestreiten, dass die Zeit ein Phänomen ist, das absolut unfassbar und unbegreiflich ist? Bei der Beschäftigung mit ihr habe ich einige sehr einsichtige und treffende Gedanken und Sätze über sie gelesen, aber auch die gewitztesten unter ihnen können im Grunde nur eines demonstrieren; dass die Menschen um so besessener an etwas herumrätseln, je weniger sie davon verstehen. Und meist verstehen sie dann auch um so weniger davon, je mehr sie daran herumrätseln!

So ist das Bild des Schlüsselloches noch ein viel zu optimistisches. Denn es liegt in der Natur der Zeit, dass sie so grundlegend ist für unsere Art, die Welt zu sehen, dass sie als einzelner, abgekapselter Faktor der Wirklichkeit gar nicht untersucht werden kann. Sie muss ja schliesslich verstreichen, damit man über sie überhaupt nachdenken kann. Sie muss als Hintergrundbild immer da sein, und sollte zur Untersuchung dann in den Vordergrund rücken – möglichst vor neutralem Hintergrund.

Diesbezüglich unterscheidet sie sich von den meisten anderen Objekten, die man untersuchen kann: man kann sie nicht "von aussen" betrachten, nicht aus ihr "aussteigen" und sie in aller Ruhe erforschen. Will man mehr über sie wissen, ist es, als sässe man im Innenraum eines Autos, das sich in voller Fahrt befindet und versuchte, dessen Nummernschild zu lesen. (Dazu mehr in Kapitel 3)

In vollem Bewusstsein also, mit jeder Überlegung, die ich über die Zeit anstelle, nur einen weiteren Beweis der menschlichen Beschränktheit in Gottes "Buch der Witze" einzuschrieben, will ich nun doch etwas darüber nachzudenken versuchen, zumindest nicht vorrangig, was Zeit ist, sondern inwiefern und ob überhaupt des Menschen Blick darauf denn beschränkt ist.

Ich werde dabei drei Ebenen unterscheiden, auf welchen der Mensch der Zeit gegenübersteht, und auf welchen er sie nie zu fassen kriegt;

Die "oberste" davon ist die Ebene der Zeit an sich. Mit dieser "Zeit an sich" ist die Gesamtheit (falls man solche Quantifizierbarkeit vortäuschende Terme hier überhaupt verwenden kann) aller Zeit gemeint, vom Big Bang bis zu dem Ende, das keinen eingängigen, bekannten Namen hat, aber ja vielleicht ein "Small Plopp" sein wird (diesen Satz muss ich im Nachhinein etwas ändern – ich konnte ja erfahren, dass die offizielle, wenn auch wenig bekannte Bezeichnung "Big Crunch" lautet... aber meine Version hat auch ihren Charme). Auf dieser Ebene scheinen die Rätsel die unlösbarsten, die Fragen die verzwicktesten zu sein; Was bedeuten "Ende" und "Anfang" der Zeit? Gibt es die Zeit überhaupt, oder ist sie eine Schöpfung des Menschen? Die Gesamtheit aller Menschen, die je gelebt haben und die je leben werden (allzu viele werden es ja anscheinend nicht mehr werden) erlebt zusammen kaum einen "Krümel" all der Zeit, die das Universum ausmacht – wie will sie da verlässliche Aussagen über eben diese Zeit machen?

Die "mittlere" Ebene ist die der Lebenszeit. Sie scheint auf den ersten Blick, bei all ihrer schwerwiegenden Problematik im Zusammenhang mit Leben und Tod, verhältnismässig leicht zu begreiffen. Dieser Eindruck täuscht, denn die Fragen, die sich auf der "obersten" Ebene für die ganze Menschheit stellten, stellen sich nun jedem einzelnen; Kann es überhaupt sein, dass die Zeit nach meinem Ableben weitergeht? Und was ist der Zusammenhang zwischen Zeit und Tod?

Die "unterste" Ebene ist die des einzelnen Momentes. Auch hier stellen sich wieder alle vorherigen Fragen und auch etliche neue. Denn wie das Wesen und die "Funktionsweise" eines Baumes schwer zu erfassen sind, so ist auch jedes einzelne seiner Blätter ein Rätsel für sich. Erwarteterweise ist bei der Zeit alles noch viel schwieriger: der Moment ist ungreifbar, und doch ist er es, der die Zeit ausmacht. Ist die Zeit einfach eine vierte Dimension, und weshalb nehmen wir dann immer nur einen hauchdünnen Teil von ihr wahr? Was unterscheidet Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit? Wann ist "jetzt"?

(Bei den Kapiteln werde ich aus bestimmten Gründen von der untersten Ebene zur obersten fortschreiten, also genau umgekehrt, als ich es jetzt bei der Vorstellung getan habe)

Auf all diese Mysterien wird dieser Text natürlich keine Antwort geben können, vermutlich wird überhaupt nie eine Antwort darauf gegeben werden. Aber bekanntlich kann man ja schon beim Aufstellen von Fragen oft profitieren - was sich auch daran zeigt, dass sich meine wenigen Erkenntnisse am Ende sogar in eine hübsche, dreispaltige Tabelle einordnen liessen.
 
 

Ebene I:

Der Moment

Einer der Gründe, weshalb ich diese enge, unterste Ebene zuerst behandle liegt darin, dass sie eigentlich die einzige Stufe ist, die wir wirklich erleben können. Unser Leben können wir uns zwar mehr schlecht als recht mittels Erinnerungen und Vorahnungen ins Bewusstsein rufen, die Gesamtheit aller Zeit von Anfang bis Ende können wir uns in einem lächerlichen Versuch vorzustellen versuchen, den Moment aber - den erleben wir jeden Tag. Und nicht nur jeden Tag: jede Stunde, jede Minute; jeden Moment eben.

Im Gegensatz dazu können wir nicht nur längere Zeiteinheiten wie Jahrzehnte oder Jahrhunderte nicht wirklich nachempfinden; selbst sechzig Sekunden sind für uns eigentlich eine unfassbare Zeitspanne - weil wir sie eben noch nie erlebt haben. Ihr Nacheinander haben wir erlebt, nicht die sechzig Sekunden als Einheit. Wie sollen wir sie uns denn auch vergegenwärtigen, diese Minutendauer, wenn die Gegenwart doch soviel kürzer ist als eine Minute, kürzer auch als eine Sekunde, so kurz wie ein eindimensionaler Punkt lang ist.

Das Merkwürdige dabei ist, dass diese Gegenwart, dieser Moment, zwar hauchdünn ist - wie die Trennlinie zwischen Wasser und Luft, da, aber doch nicht wirklich vorhanden, Gegenwart und Zukunft, denen er seine Existenz verdankt, auf ewig auseinanderhaltend - aber doch ist er nicht nur das einzige, was wir erleben, sondern das einzige, was unser Leben überhaupt ausmacht. Die einzige Zeit, in der wir handeln und existieren können.

Eine Arbeit kann zwei Stunden in Anspruch nehmen. Ich werde aber immer "jetzt" damit beschäftigt sein. Ich kann mir vornehmen, etwas "morgen" zu erledigen. Tun werde ich es in der Gegenwart. Es ist wie mit einer Linie, die ich aufs Papier zeichne. Die Linie kann noch so lang sein - gezeichnet wurde sie mit einer winzigen Bleistiftspitze, die nie länger war als einen Millimeter. Die Zeit kann noch so ausgedehnt sein, sie besteht doch nur aus unendlich vielen, unendlich schmalen Momenten.

Dabei kann es einen wundern, dass überhaupt eine Ausdehnung der Zeit möglich ist; wer unendlich feine Blätter aufeinanderlegt, wird doch nie einen endlich hohen Stapel haben.

Die Zukunft ist noch nicht real, sie existiert noch nicht. Die Vergangenheit ist schon geschehen, sie existiert nicht mehr. Die Gegenwart schliesslich ist eigentlich ein Nichts, dass zwischen die Fronten dieser beiden nicht existierenden Geisteskonstrukte geraten ist.

Dieses Problem, dass "von Nichts Nichts kommt", dass eine "zweidimensional dünne" Gegenwart eigentlich kein ausgedehntes Universum schaffen dürfte, stellt sich auch in der Physik. Will man nämlich die Geschwindigkeit irgendeines Körpers berechnen, muss man dazu messen, wo er sich zu zwei verschiedenen Zeiten aufgehält. Rückt man nun diese zwei Momente immer näher zueinander, kommt man theoretisch irgendeinmal an einen Punkt, wo nur noch eine Messung gemacht wird, weil beide Momente im selben "Jetzt" stattfinden.

Dann aber wird man keine Geschwindigkeit feststellen können: der Körper steht nämlich zu jedem beliebigen isolierten Zeitpunkt still. Wie kommt es dann, dass er sich überhaupt bewegen kann? Definiert die Zeit die Geschwindigkeit oder die Geschwindigkeit die Zeit? Ist das letztere der Fall - gibt es dann Zeit ohne Bewegung?

Fumon S. Nakagawa spricht (Gedanken aus dem Mahayana-Buddhismus aufgreifend) von zwei Aspekten der Zeit, der messbaren und der nichtmessbaren Zeit. Dabei ist interessanter-(und überraschender-)weise die nichtmessbare Zeit diejenige, die nicht nur unserem Erleben viel näher ist, sondern die auch dem Intellekt eher einleuchtet. Die messbare nämlich ist die, die Ausdehnung hat - was soll man sonst messen, wenn nicht die Ausdehnung, die Dauer? Dieser für das physikalische Messen der Geschwindigkeit nötige Zeitaspekt ist aber offensichtlich einer, den der Mensch so nicht bestätigen kann. Ich kann, wie schon erläutert, nicht behaupten, je eine Minute "miterlebt" zu haben - nur die unzähligen, winzigen Augenblicke davon. Wie also soll ich irgendeine Geschwindigkeit messen?

Und je näher die Physik nun der Zeit kommt, in der der Mensch lebt - dem Augenblick nämlich - um so weniger Gültigkeit hat sie (die Physik), bis sie am Ende völlig verloren ist, verloren im stillstehenden, absolut kurzen Jetzt.

Gleichzeitig gewinnt aber des Menschen Erfahrung an Gültigkeit; und sobald der betrachtete Zeitausschnitt dann unendlich kurz geworden ist (für die Physik also wertlos), stimmt er mit des Menschen Erfahrung überein. Eine beinahe proportionale Beziehung.

Erleben können wir also genaugenommen nur den Aspekt der Zeit, der unendlich kurz ist. Andererseits kann unser Verstand etwas Unendliches (sei es unendlich klein, gross, violett oder salzig) niemals erfassen und logisch verarbeiten. Eigentlich paradox.

So zieht auch Nakagawa seine Folgerungen: die messbare Zeit ist eine Konstruktion, die mit unserem Erleben nichts zu tun hat. Er schreibt: "Weiss ich denn wirklich, dass ich seit 50 Jahren lebe? Was ist das denn: "50 Jahre"? Ich bin heute ganz frisch, ganz neu [und jetzt ein genialer Satz:], heute bin ich geboren. [!!]" (Nakagawa, "Zen", S. 62)

Und hier hat Nakagawa nicht etwa Scheuklappen um die Augen, die ihm den Blick auf das Ganze verwehren (abgesehen davon, dass natürlich auch Nakagawa nur ein Schlüssellockgucker ist und die "echte" Wahrheit nicht erkennen kann); das Umgekehrte ist der Fall. Wer immer an Zukünftiges oder Vergangenes denkt, öffnet damit nicht sein Blickfeld, sondern er verpasst vielmehr den Teil der Zeit, den er wirklich erleben kann, den er aktiv gestalten und auf den er einwirken kann. Die Gegenwart ist die Realität, die uns umfasst, die Vorstellung der messbaren Zeit nur ein Werkzeug, das uns zur Verfügung steht.

"Wenn ich sterbe und du stehst daneben; Wer sagt da "sterben"? DU sagst das. Ich nicht, weil ich gerade sterbe. Diesen Prozess, diese Wirklichkeit des "Sterbens" lebe ich voll und ganz. Da kann ich nicht gleichzeitig eine Erklärung abgeben: Ich sterbe jetzt." (Nakagawa, "Zen", S. 62)

Natürlich muss man vorsichtig sein, wenn man den Augenblick so sehr in den Vordergrund stellt. Er ist zwar der Teil der Zeit, der unmittelbare Realität ist. Allerdings: wenn ich nun solch einen winzigen Augenblick näher betrachte, werde ich darin keine Zeit finden! ... Halten wir doch einmal kurz das Universum an... jetzt!

Untersuchen wir nun diesen Zeitpunkt, so können wir nur etwas untersuchen: den Raum. Wir sehen die Planeten, die stillstehen, die Meteoriten, die in ihrem Lauf innehalten, die Strahlen der Sonne, die erstarrt sind. Dinge, Materie, Raum, Gestalt, Stillstand. Die Zeit aber ist nirgends.

Lassen wir das Universum wieder seinen normalen Gang gehen, ist auch die Zeit wieder allgegenwärtig. Sie bestimmt, wie schnell die Planeten nun weiterkreisen, wann Meteoriten aufeinanderprallen und wo die Strahlen der Sonne erkalten. Wie ich schon weiter oben erwähnt habe, sind Zeit und Bewegung eben nicht nur sich wohlgesinnte Geschwister, sondern geradezu siamesische Zwillinge. (Siehe zu diesem Gedanken Kapitel 3)

So gesehen muss man also dem Augenblick weniger Gewicht beimessen. Er scheint sogar bedeutungslos zu sein für das Phänomen der Zeit, weil erst eine Aneinanderreihung von Zuständen, von Augenblicken, die Zeit erfordert - als ordnende Dimension, die Vorher und Nachher ermöglicht. Der "zeitlose" Moment ist wie eine Photografie, die Zeit wie ein ablaufender Film. Erst in der Bewegung, in der Veränderung macht sie Sinn und existiert sie.

Augustinus glaubte, alles sei ständig im Wandel. Und wenn etwas Neues entstehe, müsse dafür etwas Altes vergehen. Er nannte dabei die Sprache als eines der Phänomene, in dem dieses Gesetz am offenbarsten ist: um ein sinnvolles Wort zu ergeben, müssen "alte" Töne dauernd verklingen und neue sie immerfort ablösen - nur um dann sofort selbst wieder zu verstummen.

Der einzelne Ton für sich bedeutet dabei nichts, erst ihr Aufeinanderfolgen, ihre Veränderung sorgt dafür, dass sich ein Wort, ein Satz, Sprache ergibt (dasselbe gilt auch für das Bewusstsein – Gedanken und Gefühle müssen in einem dauernden Entstehen und Vergehen begriffen sein, damit sich aus ihnen ein Bewusstsein bildet – dazu mehr in Kapitel 3).

Wir haben also zwei Ansätze. Der erste: es existiert nur das Jetzt; die wirkliche, nichtmessbare Zeit hat keine Ausdehnung. Der zweite: Zeit beruht auf einem Fliessen von Zuständen, nur durch dauernde Veränderung "entsteht" sie erst.

Diese beiden Gedanken sind nicht wirklich widersprüchlich; ein bisschen sind sie's schon, aber mit ein bisschen Widersprüchlichkeit lässt es sich wunderbar leben, wenn man sich mit der Zeit beschäftigt - man muss ja froh sein, wenn sich dabei nicht dauernd wirkliche, unlösbare Paradoxien auftürmen.

Es ist genaugenommen so, dass der Mensch wohl ein bisschen in beiden "Welten" lebt (das wird auch im Modell am Ende des Textes deutlich – der Mensch steht dort in der mittleren Spalte). So gibt es für ihn zwar wirklich nur den Augenblick, den er bewusst erlebt. Dennoch ist er nicht völlig auf den Augenblick eingeschränkt; er kann ja an Vergangenes denken oder in die Zukunft planen. Und wenn man die Menschen fragt, was "Jetzt" denn überhaupt bedeute, werden wohl die wenigsten darauf beharren, nur der unendlich kurze Moment sei "jetzt", sei gegenwärtig.

Wir leben eben in einem sogenannten "Zeithof". In dem Moment, in dem ich diesen Text schreibe, gehört das Schreiben des ganzen Textes zu meiner "Gegenwart". Wie die Sätze etwas weiter oben noch ziemlich genau in meiner Erinnerung stehen, so habe ich auch die folgenden paar Worte schon geplant. Mein schreibendes Ich dehnt sich dabei aus, vom Beginn des Schreibens bis zu seinem Ende. Natürlich bin ich mir jetzt gerade nicht genau so klar darüber, was im zweiten Satz dieses Abschnittes steht wie ich mir gewiss bin, was ich jetzt gerade schreibe; je näher ich an die Grenzen des Zeithofes komme, um so mehr gerät auch alles in die Schatten - des Vergessens oder des wenig gewissen Ahnens.

Deshalb ist es auch zu eingeschränkt, nur von einem Zeithof zu sprechen. Denn auch dieser ganze heutige Tag, der zwölfte November, ist für mich Teil der Gegenwart. Selbst Ereignisse, die sich gestern zugetragen haben, gehen mir noch im Kopf herum. Das ist natürlich eine andere Form des Zeithofes; während ich vom Satz, den ich zuletzt schrieb, selbst den Wortlaut noch ungefähr weiss, ist die Erinnerung an den Brief, den ich gestern erhielt, nur eine wage Wolke von Bekümmertheit (zur Erklärung: es handelte sich dabei um einen Brief vom schweizer Militär) in meinem Hinterkopf.

Es gibt natürlich nicht nur verschiedene grössere Formen des Zeithofes, sondern auch viele kleinere. Es scheint sogar, dass unser Bewusstsein die gesamte äussere Realität in winzige, "mundgerechte" Zeitabschnitte einteilt. So gibt es zum Beispiel ein Experiment, bei dem einer Versuchsperson zwei Tonimpulse vorgespielt werden – zuerst gleichzeitig, dann mit einem Abstand von einigen Millisekunden. Wenn diese Impulse jedoch sehr nahe beieinander liegen, sind Menschen nicht dazu in der Lage, sie als zwei getrennte Impulse wahrzunehmen. Ernst Pöppel schreibt dazu: "Aus dieser einfachen Beobachtung lässt sich bereits eine allgemeine Schlussfolgerung ziehen: Objektive Ungleichzeitigkeit von Signalen ist nicht hinreichend, um subjektive Ungleichzeitigkeit der Signale zu erzielen. Erst dann, wenn die zeitliche Differenz zwischen den beiden akustischen Reizen etwa 3 ms beträgt [...], ist die Schwelle zur Ungleichzeitigkeit erreicht, d.h. die Versuchsperson hört nun getrennt in jedem Ohr einen Tonreiz." (Pöppel, "Wie kam die Zeit ins Hirn?", S. 129f)

Um den Begriff des Zeithofes jetzt in die andere Richtung bis an sein Äusserstes zu dehnen: eigentlich gibt es auch einen Zeithof, der mein ganzes Leben umfasst. Ich trage dieses Leben als Ganzes ja immer mit mir, irgendwie. Erinnere mich immer wieder an jenen Tag in meiner Kindheit (Vergangenheit), hoffe immer wieder darauf, dies oder jenes möge geschehen (Zukunft). Bin eigentlich nie "nur" da, in der Gegenwart, im Jetzt.

Anzumerken ist dabei, dass die Menschen schon hin und wieder ihr Bewusstsein wirklich "nur" im Jetzt konzentrieren, zum Beispiel Schüler bei einer Mathprobe, zwei Menschen beim Liebesakt, ein meditierender Mönch (siehe dazu das Modell am Ende des Textes – wobei in ihm der Meditierende in einer anderen Spalte steht; da ich keine Erfahrung mit der Meditation habe, vermute ich einfach, er passe zu beiden Spalten). Selbstverständlich ist diese Konzentration auf die unmittelbare Gegenwart nicht in jedem Fall gleich absolut. Die drei Beispiele sind dabei – in meinen Augen - nach aufsteigender Stärke der Konzentration angeführt. (Wobei dies auch immer von der jeweiligen Probe oder - in den anderen zwei Fällen - von verschiedensten Faktoren abhängt).

Dennoch kann man wohl sagen, dass die grösste Anzahl der Menschen die meiste Zeit über in einem "Erinnern-Erleben-Hoffen"-Zustand lebt, das heisst in einer subjektiv ausgedehnten Gegenwart, die sich über die wirkliche in zwei "Richtungen" hinauserstreckt.

Auch die Menschheit als Ganzes kennt solch einen Zeithof, wenn auch wieder in anderer Form. So definiert zum Beispiel unter anderem die Allgegenwart des Computers den Rahmen der Zeit, in der wir gegenwärtig leben. Ältere Menschen sagen oft (oder man sagt ihnen zumindest nach, oft zu sagen:): "Als ich noch jung war, war es (so und so)". Damit meinen sie natürlich nicht einen bestimmten Tag in ihrer Jugend, geschweige denn einen speziellen Augenblick. Sie sprechen schlicht über den Zeithof, in dem sie aufgewachsen sind. Und sie machen die Unterscheidung gegenüber anderen Zeiten eben mittels bestimmter, zeitabhängiger (und welches ist das nicht?) kultureller Merkmale. Wie dem Computer, oder dem gemeinsamen Erlebthaben des Krieges, oder schlicht mittels der in den verschiedenen Zeiten gängigen Erziehungsmethoden.

("Als ich noch jung war, gab es nur das Radio, und darauf nur zwei Sender!" – und dieser Zustand hielt nicht nur wenige Tage an, sondern kennzeichnete und begrenzte die ganze Zeitperiode der jeweiligen Jugend)

Generell gesagt können zwei Menschen aus demselben Zeithof problemlos miteinander kommunizieren, da sie - wenn sie vielleicht auch nicht dieselbe Bildung oder exakt identische Wertevorstellungen haben - sich zumindest auf einen gemeinsamen Grundpool von Informationen und Eindrücken berufen können, einen "gemeinsamen kleinsten Nenner" haben. Zwei Menschen aus verschiedenen Zeithöfen haben schon grössere Probleme; ein Rentner, der nach dem Kriege für jeden Bissen Brot dankbar sein musste, versteht niemals einen Jugendlichen, der seinen Teller nicht leerisst. Wie der Jugendliche auch nicht einsehen kann, weshalb der Rentner darauf beharrt, man müsse unberührt in die Ehe eintreten.Hermann Lübbe spricht davon, dass "die Zeit schrumpft". Damit meint er eben, dass die kollektiven Zeithöfe immer kleiner werden, wir also immer schneller vom einen in den anderen übertreten. Er nimmt die Literatur als ein Beispiel hierfür und erklärt (übertrieben kompliziert formulierend): "Die kulturelle Innovationsverdichtung erhöht hier epochenspezifisch den Zeitdruck als Erfahrung der Zeitverknappung durch strukturell anwachsende Inkongruenz des wachsenden Reichtums gebotener Aneignungsmöglichkeiten und der in ihrer Gebundenheit an die grundsätzlich konstant bleibende Lebenszeit relativ abnehmenden Rezeptionschancen." (Lübbe, "Schrumpft die Zeit?", S. 61)Oder einfacher: wer im Mittelalter einmal die Bibel las, war dann sein Leben lang "up to date". Wer heute ein Buch kauft weiss, dass im Schaufenster an dessen Platz schon ein Neues steht, kaum dass er das alte nach Hause getragen hat. Der mittelalterliche Mensch lebt sein ganzes Leben in einem Zeithof, der moderne Mensch durchlebt deren schon fast unzählige.In dem Zusammenhang stellt Lübbe auch fest, dass nicht nur die Zeithöfe kleiner und zahlreicher werden, sondern dass auch immer grössere Individualisierung auftritt. Heutzutage lesen kaum zwei Menschen dieselben Bücher. Der "Overkill" an Information (ich habe gerade erst folgende Aussage gelesen: "Alle fünf Jahre verdoppelt sich die Informationsmenge, die uns zur Verfügung steht." (Andreas Dengel vom Deutschen Forschungszentrum für künstliche Intelligenz in: "Der programmierte Frust" aus ‚Der Spiegel‘, Ausgabe 48/1997) – wobei angemerkt werden sollte, dass bei weitem nicht alle diese Informationen wertvoll sind!) zwingt uns, stark zu selektieren; wir leben nur noch in derselben "Zeit" wie eine bestimmte Gruppe der Gesellschaft, nicht mehr wie die Gesellschaft an sich.

Lübbe schliesst daraus, dass ein bestimmter Grundstock an "klassischen Informationen" zum Zusammenhalt der Gemeinschaft immer wichtiger wird. Wieder vereinfacht gesagt: Mag der Senn was Computer angeht mit dem Informatiker auch nicht klarkommen, so lesen sie zumindest beide gerne Gotthelf und jubeln, wenn im Fussball für die Schweiz ein Tor fällt.

Aber selbst wenn es solche grundlegenden "Informationen" gibt, selbst wenn sie mit der Zeit an Bedeutung gewinnen (was auch verhängnisvoll sein kann; gewinnen immer weniger verbindende Elemente immer mehr an Bedeutung, können daraus Dogmen entstehen, die Verhältnismässigkeit kann verlorengehen), so muss man doch feststellen, dass die verbindenden Verankerungen der jeweiligen Generationen immer schwächer werden, dass also immer mehr Menschen das Gefühl haben, nicht zu wissen, in welcher Zeit sie überhaupt leben. Die Menschen hetzen von Zeithof zu Zeithof, und wie der Zugreisende erkennen sie dabei ob der rasenden Geschwindigkeit immer weniger, wo sie sich im Moment aufhalten.
 
 

Ebene II:

Die Lebenszeit

Ein Wanderer, der sich durch eine weite Wüste kämpft. Eine einzige Flasche mit Wasser - sparsam geht er mit ihr um, nimmt dauernd etwas Wasser zu sich, aber nur in winzigen Schlucken. So schafft er es immer wieder über die nächste Dünung, wo ihn die Hoffnung packt, die darauffolgende könnte die letzte sein.

Das Wasser in der Flasche aber ist vergiftet, und je mehr der Wanderer trinkt, um so wirksamer wird das Gift. Schliesslich wird die Konzentration tödlich, und der Wanderer geht zugrunde. Was anderes als die Wüste hat er nie gekannt, woher er kam und wohin er ging blieb hinter wehendem Sand verborgen.

So ähnlich ergeht es uns Menschen. Unser Wasser ist die Zeit; dauernd verbrauchen wir sie, um zu leben, und indem wir sie (ver-)brauchen, nähern wir uns dem Tod.

Dies ist wohl auch der einzige Grund, weshalb wir an der Zeit so interessiert sind, von ihr so fasziniert, dominiert geradezu. Nur weil sie in sehr begrenzten Umfang vorhanden ist, achten wir so auf sie. Der Millionär schert sich nicht um zwanzig Rappen, aber was die Zeit angeht, sind wir Menschen alle Bettler.

Um etwas von den pathetischen Bildern (nichts für ungut!) wegzukommen: sieht man sich die drei Ebenen an, in die dieser Text unterteilt ist, bemerkt man, dass die zweite diejenige ist, die den einzelnen Menschen am meisten beschäftigt und die ihm am meisten bewusst wird. Die Problematik des ausdehnungslosen Augenblicks der ersten Ebene bemerken wir nicht, wenn wir uns nicht darauf achten. Wir sind uns auch immer vermeintlich sicher darüber, was "vorher" und "nachher" bedeutet, wann "jetzt" ist und wann nicht.

Die sehr weiten und weitgehenden Fragestellungen der letzten Ebene berühren den Menschen höchstens bei der wissenschaftlichen Beschäftigung damit; Urknall, der Zusammenhang zwischen Zeit und Bewusstsein und all die anderen Mysterien spielen im Alltag keine wirkliche Rolle.

Der zweite Ebene aber gilt nicht nur des Menschen Aufmerksamkeit, ihr gelten auch seine schlimmsten Ängste und seine schönsten Wunschvorstellungen. Sie ist es, wie oben erwähnt, die den Menschen überhaupt erst auf das Phänomen Zeit aufmerksam gemacht hat. Geburt und Tod - speziell der Tod - dürfen für sich in Anspruch nehmen, (einer?) der treibende(n?) Faktor(en?) allen menschlichen Strebens zu sein.

Ist es schon schwer genug, sich überhaupt eine Begrenztheit der Zeit vorzustellen, so ist die Vorstellung davon - das heisst, eigentlich, die tief sitzende Gewissheit darüber, dass die eigene, persönliche Zeit auch Anfang und Ende hat, noch viel gewichtiger.

Philosophie sollte sich zwar bei ihren Aussagen meiner Meinung nach nicht auf einen Kulturkreis beschränken, sondern so allgemeingültig wie möglich zu sein versuchen, dennoch möchte ich eine Beobachtung machen, die zunächst einmal von unserer europäischen Kultur ausgeht.

Das Problem des Todes nämlich stellte sich nicht immer so akut wie heutzutage. Die letzten mehreren hundert Jahre lang war er - der Tod - ja gar kein solches Schreckgespenst. Im Gegenteil, dem gläubigen Christen wurde versprochen, ihn erwarte nach Verlassen der schnöden Welt, dieses besseren Wartezimmers, das ewige Leben. Die Protestanten trieben (und treiben) es hierbei am "buntesten", will sagen, eigentlich am farblosesten; im Diesseits ist ihr Leben eine ewige Qual, erst nach dem Tod wollen sie sich der Freude hingeben.

Aber nicht erst und nicht nur das Christentum kam auf den Gedanken, der Tod sei vielleicht eher Durchgangspforte denn letzte Ausfahrt. Die Wikinger freuten sich auf das Feiern in Walhalla, die Seelen der Indianer gingen nach dem Tode in die Natur zurück, die Anhänger des Plotin hofften bei jeder Erkältung, nun endlich in den Weltenlogos eingehen zu können, der Buddhist zerschmilzt (allerdings erst nach mehreren "Toden") ins Nichts des Nirvana.

Ohne mich mit all diesen Religionen genau befasst zu haben (das läge auch etwas weit ab vom ursprünglichen Thema, selbst für meine Disziplinlosigkeit bezüglich Thementreue) stelle ich nichtsdestotrotz einmal die These auf, dass die längste Zeit in der Menschheitsgeschichte der grösste Teil der Menschheit fest daran glaubte, nach dem Tode sei nicht wirklich "alles zu Ende".

Bestimmt haben auch heute noch fast alle Menschen dieses unterschwellige Gefühl, diesen unbestimmten Glauben. Nicht aus Naivität oder Dummheit, sondern einfach deshalb, weil unser Bewusstsein nicht dafür geschaffen ist, sich einen solchen Zustand vor und nach dem Tode vorzustellen - schliesslich haben wir nicht einmal Worte dafür, ihn richtig zu benennen.

Aber ungeachtet dieses Gefühles hat die moderne Wissenschaft, seit der Aufklärung vermutlich, seitdem man Blitzableiter auf Kirchen montieren muss, dem Menschen vor Augen geführt, dass der Tod vielleicht nichts anderes ist als ein Zuendegehen bestimmter biologischer Vorgänge. Dass das Jenseits vielleicht wirklich nur ein Zustand ohne Bewusstsein ist, in dem die Stoffe, aus denen der eigene Körper im Leben bestanden hat, vergammeln und von Würmern verspeist werden.

Diese unangenehme Überlegung hat Shakespeare wunderbar formuliert - Hamlet, gefragt nach dem Verbleib des Polonius (den er bekanntlicherweise eben erstochen hat), sagt dies: "A certain convocation of politic worms are e'en at him. Your worm is only your emperor for diet: we fat all creatures else to fat us, and we fat ourselves for maggots. Your fat king and your lean beggar is but variable service, two dishes, but to one table - that's the end." (Shakespeare, "Hamlet", Akt IV, Szene 3, Z. 19-24)

Solche Gedanken trugen und tragen dazu bei, dass viele Menschen – ungeachtet des eben erwähnten Gefühles der Unsterblichkeit – zumindest rationell mit einem "Weitergehen" nach dem Tode nicht mehr rechnen. Und logischerweise hat diese "Zerstörung des Himmels" Folgen für das Leben vor dem Tod. Denn wer weiss, dass sein Leben ein einziger Countdown ist, mit dessen Ende unweigerlich mit allem Schluss ist, der hat nicht nur grössere Zeitnot als der, der sein Leben als Vorspeise zum grossen Hauptmenü sieht; er hat eine komplett andere Sichtweise auf sein Dasein.

Die Zeit wird also sehr viel kürzer, wenn wir sie nur auf unser Leben einschränken (meiner Meinung nach beginnt sie eigentlich erst richtig zu existieren, wenn sie so eingeschränkt wird – siehe dazu die Überlegung im dritten Kapitel bezüglich dem ‚Tod, der uns zu Menschen macht‘). Und wenn nach dem Tod Schluss ist, muss man das, was man gerne tun möchte, vorher erledigen.

Um es übertrieben (wobei ich eingestehe, dass "übertrieben" in Extremfällen ein beschönigendes Wort für "falsch" sein kann) darzustellen: Der mittelalterliche Bauer beharkte täglich ausdauernd sein Feld, zufrieden gar, da er ja wusste, dass alles Schöne, was ihm jetzt entging, ihn später nur um so wonniglicher erfreuen würde. Der "moderne" Manager beharkt zwar auch täglich und vielleicht sogar ausdauernd seine Untergebenen, ist dabei aber dennoch unzufrieden. Denn er wird sich oft bewusst, dass er in das kurze Leben neben und nach der Arbeit all das Glück reinpacken muss, dass er je erleben möchte.

Nun, dass er sich dies oft bewusst wird, ist vielleicht eine unzutreffende Vermutung. Im Gehetze und in der Geschwindigkeit der modernen Welt gehen solche Gedanken wohl häufig ganz unter. Paradox: man hetzt, um glücklich sein zu können, und vergisst darüber glatt das Glücklichsein. Schon Seneca sagte:"Wir haben keine knappe Zeitspanne, wohl aber viel davon vergeudet. Unser Leben ist lang genug und zur Vollendung der grössten Taten reichlich bemessen, wenn es im ganzen gut verwendet würde: aber sobald es in Genussucht und Nachlässigkeit zerrinnt, sobald es für nichts gutes aufgewendet wird, merken wir erst unter dem Druck der letzten Notwendigkeit, dass es vergangen ist, während wir gar nicht erkannten, dass es dahinging." (Seneca, "De brevitate vitae", Abschnitt 3)

Hier muss man natürlich einwenden, dass gerade in der heutigen Zeit allerorten sehr genau auf das Lebensalter geachtet wird. Fünfzigjährige reservieren einen Platz im Altersheim, Vierzigjährige verfallen der "Midlifecrisis", Dreissigjährige lügen, wenn man sie nach ihrem Alter fragt. Der Jugendwahn hat Hochkonjunktur.

Das deutet aber keineswegs darauf hin, dass die Menschen versuchen würden, das Meiste aus ihrer Lebensspanne herauszuholen. Im Gegenteil. Indem sie sich ewige Jugend wünschen, verleugnen sie ihr gegenwärtiges Dasein; sie richten ihre Gedanken nach hinten, übersehen dabei den gegenwärtigen Tag, den es ja bekanntlich zu pflücken gilt!

Wie schon erwähnt scheint der moderne Mensch weniger Zeit zur Verfügung zu haben als seine Vorfahren (wobei ich selbst solche Thesen immer etwas zweifelhaft finde). Bei seinem Versuch, dennoch möglichst viel in sie hineinzupressen, muss er sich natürlich dauernd beeilen. Lama Govinda aber weist zurecht auf einen wichtigen Umstand hin: "Je weniger wir uns innerlich oder äusserlich bewegen, desto mehr werden wir uns der Zeit bewusst. Je mehr wir uns bewegen, desto weniger gewahren wir den Ablauf der Zeit." (Lama Govinda, "Schöpferische Meditation...", S. 299)

Er will aber nicht dazu aufrufen, sich möglichst lethargisch zu verhalten, um so die Zeit genau mitzuerleben. Man muss vielmehr den richtigen Rhythmus finden und "in dem Sinne zeitlos werden, dass man Zeit nicht mehr als solche empfindet". Das mag auf den ersten Blick nach inhaltsleeren Schlagworten klingen – es ist auch etwas "nebulös" ausgedrückt. Aber in meinen Augen geht es in diesem Satz um die einleuchtende Tatsache, dass der Mensch weder in völliger Passivität die Zeit ad extremum mitfühlen soll, noch durch hektische Aktivität sie komplett ignorieren.

So kommt es zum Beispiel mitunter vor, dass ich am Ende eines schönen Tages oder eines positiven Erlebnisses zu mir sage: "Wie traurig, nie wird dieser Moment wiederkehren" (dabei kommt einem natürlich aus aktuellem Anlass der Roman "Mrs. Dalloway" in den Sinn, der ja mit solchen Anmerkungen gespickt ist). Dann versuche ich jeweils, mir darüber klar zu werden, dass ich eigentlich froh sein sollte darüber, dass dieser Augenblick vorbeigegangen ist. Denn nur ewige Veränderung macht unser Leben lebenswert, und nur sie sorgt dafür, dass solche Momente überhaupt möglich sind. Wer an Vergangenem festhält – und natürlich trage ich jetzt Eulen nach Athen – lebt nicht wirklich. Wer aber dauernd vom einen zum anderen hastet tut es genausowenig.

Wer lebt denn wirklich? Seneca sagt dazu: "Allein von allen sind der Musse hingegeben, die für Philosophie Zeit haben: sie allein leben. Denn sie behüten nicht nur ihr eigenes Leben; sie fügen ihrer eigenen Zeit alle Zeit hinzu. [...] Kein Zeitalter ist uns verwehrt, zu allem werden wir zugelassen, und wenn es uns gefällt, hohen Geistes aus den Beengungen der menschlichen Schwäche herauszutreten, so ist das eine lange Zeit, durch die wir wandeln können. Man darf sich mit Sokrates unterhalten, mit Karneades zweifeln, [...] da es die Natur der Dinge gestattet, in die Gemeinschaft mit jedem Zeitalter teilnehmend einzutreten." (Seneca, "De brevitate vitae", Abschnitt 14)

Dabei engt Seneca die Möglichkeiten des wahren Lebens etwas zu stark ein; nicht nur, wer Bücher über die alten Philosophen liest, hat Teil an vergangener Zeit. Jeder, der sich über Zukunft und Vergangenheit, Anfang und Ende, Leben und Tod bewusst Gedanken macht, ist ein "Lebender". Denn er tut das, was nur er als Mensch vermag: betrachtet die Zeit differenziert, unterscheidend zwischen vorher und nachher, sich bewusst den Dingen, die ein Tier nicht erahnt (siehe zu dem Thema das Ende von Kapitel 3 und das Modell am Textende).

Nicht vielen gelingt es, so ergeben und gelassen mit dem Tod zu leben wie Seneca, den Stoikern und ihren Vorgängern und Nachfolgern. Die meisten Menschen lösen diese Schwierigkeit für sich indem sie die Konfrontation mit bestimmten Fragen immer weiter hinausschieben, bis diese sich ganz am Ende ganz von selbst erledigen. Diese Menschen wissen, dass ihnen der Häscher im Nacken sitzt, und versuchen solange er sie noch nicht eingeholt hat nicht daran zu denken.

Neben dieser gibt es zwei andere oft praktizierte Methoden, mit dem Problem vom Anfang und vor allem vom Ende umzugehen. Die erste ist die, den Tod zu betrügen; indem man unsterblich wird...

Ich will natürlich damit nicht auf den Jungbrunnen oder den heiligen Gral zu sprechen kommen (obwohl die Existenz solcher Mythen viel darüber aussagt, wie sehr Menschen mit dem Gedanken der Unsterblichkeit spielen und gespielt haben) – ich meine eine weiter gefasste Art von Unsterblichkeit.

Denn ist sie nicht eine wunderbare Lösung? Wenn man es nicht akzeptieren kann, einmal völlig ins Nichts einzugehen, komplett zu verschwinden, dann tut man es eben einfach nicht. Diese Idee ist schon uralt. Die Ägypter haben dabei einen der Wege zur Unsterblichkeit beschritten, der zu den spektakulärsten gehört; das Schaffen von unvergänglichen (Bau-)Werken. Die riesigen Grabmale hatten natürlich auch verschiedenste religiöse Bedeutungen. Der Verstorbene sollte einen reibungslosen Übergang in das Jenseits haben, und auch dort weiterhin seinen ehemaligen Reichtum geniessen können.

Daneben aber ging es zweifellos darum, irgendwie auch im Diesseits weiterexistieren zu können. Weshalb sonst die riesigen, weithin sichtbaren Monumente, gebaut für die Ewigkeit? Nicht nur letzte Ruhestätten erfüllten und erfüllen in fast allen Kulturen diese Funktion, jede denkbare andere Art von Gebäuden kann dazu dienen, die Erinnerung an eine bestimmte Person wachzubehalten.

Um sicherzustellen, dass man nicht vergessen wird, kann man natürlich noch viele andere Wege gehen; nicht nur konkrete Objekte wie Bauwerke oder Bilder sind der Nachwelt Zeugen ihres Schöpfers. Auch Taten haben mitunter die Qualität, "unsterblich" zu sein und dadurch Unsterblichkeit zu verleihen. Gerade grosse Kriegsherren geniessen das Privileg, dass ihr Andenken noch Jahrhunderte nach ihrem Dahinscheiden gepflegt wird. (Beunruhigend eigentlich, dass dem Krieg, der Gewalt, so ein grosser Stellenwert eingeräumt wird)

Die Zerstörung, das extreme Gegenteil des Erbauens eines Denkmals oder des Erschaffens eines Bildes oder eines Textes, wird oft angewandt, um Unsterblichkeit zu erlangen. In grossen Rahmen – wie bei Hannibal, Alexander, Napoleon oder Hitler, um die offensichtlichsten Fälle zu nennen – aber auch in kleinerer Form. Amokläufer zum Beispiel, die sich zum Selbstmord entschlossen haben, nehmen so viele fremde Menschen mit in den Tod wie möglich.

Ich glaube, es kommt vor (bei mir zumindest), dass es dem Menschen manchmal unheimlich wird, wenn er realisiert, dass nach seinem Tod, nach dem Ende seiner Existenz, andere Menschen weiterleben werden. Tausende, Millionen, Milliarden von Menschen, solche die er nicht kannte und solche die er gekannt hat – sie alle werden auch nach seinem Ableben genauso weiterexistieren wie zuvor. Dabei war er doch der Mittelpunkt der Welt, ist ohne ihn "das alles" doch gar nicht denkbar.

Möglich, dass aus diesem Gefühl heraus ein kranker Mensch die Entscheidung trifft – bewusst oder unbewusst – dass, wenn er schon sterben müsse, auch alle anderen (oder zumindest eine Gruppe der anderen) nicht weiterleben sollten.

Ich habe schon kurz die Suche nach wahrer, körperlicher Unsterblichkeit erwähnt, im Zusammenhang mit dem heiligen Gral, dem Jungbrunnen und anderen Mythen (z.B. dem göttlichen Ambrosia). Es ist interessant, dass es auch heutzutage wieder eine neue Gruppe von Menschen gibt, die eine echte Unsterblichkeit anstreben. Ich meine damit diejenigen, die dem Trend folgen, sich nach dem Tode einfrieren zu lassen, darauf hoffend, irgendwann in der Zukunft werde ein Heilmittel gegen ihre Krankheit oder sogar gegen die "Krankheit Tod" gefunden, womit man sie nach dem "Auftauen" dann behandeln würde.

Dies ist vielleicht nur eine neue Form von fatalistischer Verblendetheit, krankhafter Einäugigkeit, wie sie schon immer dafür sorgte, dass Menschen sich Sekten oder anderen Bewegungen anschliessen, von denen sie das ultimative Heil erhoffen. Nur wendet sich diesmal dieser blinde, närrisch eifrige Glaube nicht gegen eine Gottheit oder eine spezielle Lehre, sondern gegen die trügerische Allmacht der Technik und der Wissenschaft. Diese Fragen führen nun allerdings zu weit und sind schwer zu beantworten.

Eine Methode gibt es noch, Unsterblichkeit zu erlangen. Daran, dass ich sie zuletzt erwähne, kann man schon erkennen, dass ich sie für die richtige, fast (aus bestimmten Gründen nicht ganz) für die einzig richtige halte. Sie ist einerseits viel naheliegender und einfacher als die anderen, andereseits erfordert sie möglicherweise mehr Kraft und Einsatz.

Diese letzte Methode ist sehr beliebt und wird überall praktiziert: das Kinderkriegen.

Man sorgt (als Elternteil) dabei nicht nur dafür, dass die eigenen schnöden Gene weiter in der biologischen, lebendigen Masse mitbrodeln dürfen. Man tut viel mehr – man kann nämlich all das in einem erreichen, was die zuvor erwähnten Möglichkeiten der Unsterblichkeitje einzeln zu bieten haben.

Erstens "setzt man sich selbst ein Denkmal", ein Lebendes nämlich. Und für die, die es sich dann anschauen und darob staunen sollen, muss man auch nicht sorgen, weil diese Art von Denkmal – ein Kind – sich selbst bewundern (und auch bemängeln) kann.

Zweitens hat man auch eine wichtige Tat vollbracht. Ein Kind aufgezogen, für es gesorgt und ihm das beigebracht, was einem selbst wichtig ist. Die eigenen Werte leben in dem Kind weiter, und vielleicht in seinen Kindern, den Kindeskindern, und so weiter, so lange die Gene tragen mögen.

Drittens muss man, wenn man ein Kind hat, nach dem eigenen Tod nicht einfach "zu Ende gehen", während der grosse Wagenzug der Menschheit weiterzieht. Dadurch, dass die Kinder und Kindeskinder "die Fackel weitertragen", wird man irgendwie immer dabeisein.

Es gibt noch einige weitere Punkte, die mir hier in den Sinn kommen. Vermutlich wird die Liste sich, wenn ich einmal Vater werde, geradezu explosionsartig verlängern. Aber für jetzt belasse ich es bei diesen drei.

Noch einmal zusammengefasst einige verschiedene Möglichkeiten, "unsterblich" zu werden:

  1. Bauwerke, Kunstwerke, weitere Werke verschiedenster Art
  2. Erinnerungswürdige (im positiven und negativen Sinne) Taten
3. Religiöse (im weitesten Sinne) Rituale – wie eben das Sich-Einfrieren-Lassen

4. Das Kinderkriegen

Man vergisst allzuleicht, dass es noch einen ganz anderen Weg gibt, mit dem Tode umzugehen, einen so ungewohnten, dass er den meisten gar nicht in den Sinn kommt, auch mir selbst nicht; das Gegenstück der Unsterblichkeit, die Sterblichkeit.

Das Akzeptieren der eigenen Sterblichkeit hat dabei nichts mit Selbstmord zu tun. Das Gegenteil ist der Fall: wer den Tod annehmen kann, der wird auch viel weniger Probleme haben, das Leben an sich heranzulassen. Die beiden gehören untrennbar zusammen, unter anderem deshalb, weil der eine das andere definiert und umgekehrt. Wer den Tod nicht kennt, weiss nicht, was das Leben ist. Wem das Leben fremd ist, der hat keine Vorstellung vom Tod. (Ich will beileibe nicht behaupten, in meinem jungen Alter "das Leben" schon zu kennen – alle diese Aussagen sind eher theoretische Überlegungen.)

Wer also zum Beispiel dem Jugendwahn verfallen ist, versucht den Tod zu verdrängen. Er versucht noch mit Vierzig, das Leben eines Zwanzigjährigen zu führen. Und lebt deshalb das eigene nicht, weiss nicht, wie ein Vierzigjähriger lebt, verpasst später das Leben eines Fünfzig-, Sechzig- und Siebzigjährgen.

Eine dem Jugendwahn entgegengesetzte Position: im Buddhismus ist man sich der Vergänglichkeit aller Dinge sehr bewusst, auch der Vergänglichkeit des eigenen Selbst. Aber gerade die ist es, auf die man alle Hoffnung setzt; erst wenn das getäuschte, irregeleitete Ich, das von der eigenen Wichtigkeit so überzeugt ist, abgelegt wird, kann man sich Erlösung erhoffen. Das "Zuendegehen" als positiver Punkt, als Befreiung. Der Schlusspunkt, ohne den nur ein unendliches, flaches Nichts existiert.

Die Sterblichkeit bejahen erfordert viel Weisheit, mehr als wir alle (ich zumindest) wohl meist zur Verfügung haben. Aber manchmal scheinen auch wir "Normalsterblichen" ein wenig davon zu erahnen, dass der Tod seine guten Seiten hat. Zum Beispiel dann, wenn wir diese bekannte Redewendung benutzen: "Man soll dann aufhören, wenn es am schönsten ist!"
 
 
 
 

... (Nur: wer glaubt diese Redewendung schon?)
 
 

Ebene III:

Die Zeit an sich

(Vorbemerkung: Bekannterweise definieren sich Menschen viel leichter darüber, was sie nicht sind, als darüber, was sie sind. So geht es nicht nur dem einzelnen, sondern auch der Menschheit an sich. Positive Aussagen über sie sind viel schwieriger zu treffen denn negative. Und so ist ein wichtiger Punkt, auf den wir uns berufen, wenn wir uns selbst charakterisieren, der, dass wir "keine Tiere" sind.

Problematisch daran ist, dass noch nie ein Tier ausdrücklich gesagt hat, es sei kein Mensch. Anders gesagt: wir wissen nicht, was im Innern von Tieren vor sich geht und sollten uns auch kein Urteil darüber erlauben. Wenn ich es nun dennoch tue, dann nur im vollem Bewusstsein, dass alles, was in dem Zusammenhang gesagt wird pure Spekulation ist und vielleicht einmal wiederlegt werden kann. Allerdings würden die eigentlichen Aussagen des Kapitels selbst dann ihre Gültigkeit behalten, wenn meine Katze mich morgen beim Frühstück über die Rentenproblematik in Deutschland auszufragen beginnen würde - denn die "Tiere" stehen hier einfach als Stellvertreter eines Zustandes, der nicht auf dem selben Sich-Selbst-Bewusstseins-Grad rangiert wie der der Menschen.

Notfalls könnte ich als Representanten dieses Bewusstseins auch einfach hypothetische Wesen herbeidichten – es scheint ja zumindest unter Wissenschaftlern sehr beliebt zu sein, irgendwelche Dämonen zu erfinden. Als Nicht-Wissenschaftler, werden für mich die Tiere als Beispiel herhalten müssen.)

Im letzten Kapitel soll es um die Frage der Zeit an sich gehen. Gemäss der Einteilung in drei Ebenen zunehmender "Grösse" sind wir damit bei der weitesten Ausdehnung des betrachteten Ausschnittes der Zeit angelangt. Nach dem unendlich kurzen Moment und der nur all zu endlichen Lebenszeit also bei der unendlich langen Gesamtheit der Zeit. Obwohl in diesem Zusammenhang Phänomene wie der Urknall oder schwarze Löcher sehr interessant sind, gehe ich dabei im Text vorrangig der Frage nach, in welcher Form die Zeit wohl überhaupt existiert und in welchem Verhältnis der Mensch zu ihr steht.

In der Einführung habe ich, um das Dilemma der "unfassbaren" Zeit zu erläutern, das Bild des dahinrasenden Autos gebraucht. Dieses Bild lässt einen wichtigen Aspekt ausser acht. Zwar vermittelt es relativ anschaulich das Ausmass der Schwierigkeit, die sich beim Erforschen der Zeit bietet, es stellt aber dennoch die Zeit und den Menschen als zwei voneinander getrennte Objekte dar; es wäre bei diesem Vergleich sogar denkbar, dass der Mensch dennoch irgendwie einen Blick auf das Nummernschild erhaschen könnte.

Mit der Zeit ist es natürlich viel anders. Sie ist nämlich vom Menschen nicht einfach so zu trennen. Sie ist nicht einfach da wie die Kulisse einer Bühne, und der Mensch kann nicht einfach frei und unabhängig vor ihr agieren. Denkt der Mensch über die Zeit nach, so vergeht ebendiese dabei auch immer, er steht nicht vor, sondern in ihr (ähnliches habe ich schon in der Einführung erwähnt). Denken ohne die und unabhängig von der Zeit ist nicht möglich. Wenn ich aber jetzt die Zeit hinterfrage, sie im Extremfall gar in Frage stelle, ist dies ziemlich paradox: ich denke plötzlich (in der Zeit) darüber nach, ob die Zeit überhaupt existiert.

Jedes Nachgrübeln über die Zeit ist deshalb meiner Meinung nach eigentlich vergebens - weil die Zeit, oder zumindest das, was wir darunter verstehen, nur ein Produkt unseres Bewusstseins ist. Versuchen wir sie zu fassen, geht es uns also wie dem Hund, der seinem eigenen Schwanz nachläuft.

Im ersten Kapitel habe ich beschrieben, wie der Mensch eigentlich nur kleinste Zeiteinheiten erleben kann. Und dass eben diese kleinsten Zeiteinheiten in sich selbst keine Zeit tragen. Dass Zeit also nur in einem Aufeinanderfolgen dieser Augenblicke existiert. Der Mensch ist nun zwar in den einzelnen Augenblicken "gefangen" - aber er kann sich doch (und das ist wohl der Punkt, der uns als Menschen kenn(aus-?)zeichnet) einen Überblick über sie verschaffen.

Damit meine ich, dass er eine Art von Bewusstsein hat, die ihm erlaubt, "Zukunft" und "Vergangenheit" zu definieren, und mit diesen zwei Konstrukten zu "arbeiten". Auch wenn er im Jetzt festsitzt, so verbindet ihn doch immerzu ein komplexes Netz von rückwärts- und vorwärts gerichteten Gedanken mit Momenten, die "vor" oder "nach" dem gegenwärtigen Jetzt existiert haben oder existieren werden.

Dass ich Zukunft und Vergangenheit als Konstrukte bezeichnet und in Anführungszeichen gesetzt habe (das Thema Zeit ist ein so vieldeutiges und unfassbares, dass ich um jedes einzelne Wort Anführungszeichen machen möchte - wie man wohl oft (genervt?) feststellt) zeigt schon, dass diese nicht unabhängig existieren können. Sie sind geradezu Erfindungen der Menschen.

Denn anders als die Menschen (hier kommt nun die erste unbeweisene Annahme bezüglich der Tiere) leben die Tiere wirklich absolut im Jetzt. Sie sind immerzu isoliert von allen anderen Zeiten. Erinnern sich nicht, wann sie zuletzt etwas gegessen haben, planen nicht voraus, ein Stück Fleisch noch für einen Tag aufzubewahren. Das Hamstern oder das Knochen-Vergraben will ich dabei unverschämterweise einfach den Instinkten zuschreiben. (Wobei natürlich die Frage aufkommt, ob nicht auch der Mensch nicht immerzu aus reinem, nackten Instinkt heraus handelt, nur eben auf etwas kompliziertere Weise... nun, eigentlich bin ich dieser Theorie sogar sehr zugeneigt; jedoch ist a) dieser menschliche Instinkt so viel verworrener und komplexer als der tierische, dass man kaum davon sprechen kann, dass die zwei nebst dem Namen noch etwas gemeinsam hätten, und b) diese Frage viel zu vielfältig, als dass sie als blosses Unterthema eines Kapitels besprochen werden könnte)

Wenn ich eine Filmrolle vor mir habe, und mir dann ein einzelnes Bild daraus anschaue, so erlebe ich nicht das, was den Film ausmacht; ich sehe ja nur einen kleinen Teil davon. Wenn ich aber die Filmrolle ausbreite und mir alle Bilder zugleich ansehe, sehe ich zwar den ganzen Film, aber ich erlebe immer noch nicht das, was den Film ausmacht. Die Bewegung, die Handlung, die Spannung – all das kann ich nur nachempfinden auf diese eigentlich nicht naheliegende Weise, dass ich mir ein Bild nach dem anderen in schneller Reihenfolge ansehe.

Es kommen einem dazu einige Themen in den Sinn, die weiter oben angesprochen wurden: der Zeithof, der unsere Gegenwart über den Moment hinausdehnt, der Umstand, dass nur das Vergehen eines Geräusches und das Kommen eines neuen die Sprache ausmachen und weitere Dinge. Alle Gedanken über die Zeit sind eben miteinander verbunden und können nicht isoliert betrachtet werden.

Bewegung scheint in all den erwähnten Beispielen sehr wichtig zu sein. Bewegung misst man an der zurückgelegten Strecke im Raum. Lama Govinda schreibt hierzu einige sehr interessante Sätze: "Augenscheinlich wird der menschliche Geist sich sehr viel eher der Wirklichkeit des Raumes gewahr als der der Zeit. Und dies wiederholt sich in jedem Kind, bei dem sich das Raumgefühl sehr viel früher entwickelt als das Zeitgefühl, das im frühesten Alter so gut wie abwesend ist. Dies erklärt sich daraus, dass das Raumgefühl zunächst mit der Bewegung des Körpers zusammenhängt, das Zeitgefühl aber mit der Bewegung des Geistes." (Lama Govinda, "Schöpferische Meditation...", S. 291)

Die Bewegung des Geistes ist es also, die uns die Zeit als vierte Dimension erschliesst. Eben diese Bewegung des Geistes, von der ich den Tieren nicht ohne einige Gewissensbisse abspreche, dass sie dazu in genügendem Masse in der Lage seien. (Nur um nicht als Tierfeind zu gelten: ich achte Tiere sehr hoch, töte weder Insekten noch sonst "jemanden" und bin inzwischen auch unfanatischer Vegetarier)

Indem ich meinen Bewusstseins-Fokus von der Gegenwart in die Vergangenheit und in die Zukunft schweifen lassen kann, erschaffe ich diese zwei erst, erschaffe mir damit einen Zeitpfeil, gewinne Bewegungsspielraum. Die Zeit, die Schöpfung des Menschen. Umgekehrt kann auch das menschliche Bewusstsein erst durch den Fortgang der Zeit in der Form bestehen, wie wir es kennen. Wie für ein Musikstück, ist auch für das menschliche Bewusstsein die Veränderung eine unumgängliche Voraussetzung. (Hier könnte man mit einer dieser müssigen "Ei oder Huhn zuerst?"-Debatten einsetzen. Das Bewusstsein schuf sich wie eine entfaltende Blüte mehr Raum, und indem es diesen ausnutzte, gewann es noch mehr Flexibilität, die dann wieder zu mehr Spielraum führte. Huhn und Ei wuchsen also "Hand in Hand" gemeinsam auf)

Der Unterschied vom Tier zum Menschen ist dabei der, dass der Mensch sich eben "bewusst" ist, dass morgen die Sonne aufgehen wird, dass gestern die Sterne schienen. Und, dies ist wohl das Wichtigste – dass er sterben wird. Im zweiten Kapitel habe ich schon erwähnt, für wie entscheidend ich den Einfluss dieses Wissens auf unser Verständnis von der Zeit halte.

Interessant ist dabei, dass genau der Umstand, der den Menschen eigentlich erst zum Menschen gemacht hat, derjenige ist, der von ihm auch am meisten verdrängt wird; die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit machte die Zeit für den Menschen endlich – während sie für die Tiere unendlich kurz und für Gott unendlich lange ist. Nur etwas Endliches kann man aber einteilen und messen, kann man erfassen. Da nun die Zeit zu etwas Endlichem wurde, war es unseren Vorfahren möglich, vorauszuplanen, sich zu erinnern, zu vergessen, Altes weiterzutragen, Neues zu schaffen, sie ermöglichte der Menschheit vielleicht erst Zivilisation, Kultur, Wissenschaft, Philosophie (oder übertreibe ich nun?).

Und doch kennen wir Menschen keinen erschreckenderen Gedanken als den unseres Todes. Merkwürdig, oder?

Zurück zum ursprünglichen Thema; dem Zusammenhang zwischen Bewusstsein und Zeit. Bevor ich zwei Gedankenexperimente dazu anstelle, möchte ich Augustin zitieren, der zu dieser Frage eine interessante Aussage gemacht hat (wobei man in seinem folgenden Satz den Begriff "Seele" mit "Bewusstsein" ersetzen kann, damit der Zusammenhang zwischen dem Zitat und den vorherigen und nachfolgenden Erläuterungen deutlicher wird): "Eigentlich also kann man nicht sagen: es gibt drei Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Genauer vielleicht wäre es zu sagen: es gibt drei Zeiten, die Gegenwart des Vergangenen, die Gegenwart des Gegenwärtigen, und die Gegenwart der Zukunft. In der Seele (nämlich) sind diese drei; anderswo sehe ich sie nirgends. Die Gegenwart des Vergangenen ist das Gedächnis, die Gegenwart des Gegenwärtigen ist die Anschauung, die Gegenwart des Künftigen ist die Erwartung." (Augustin, Confessiones, 11. Buch)

Um diese Argumentation, die Zeit sei ein Produkt (und gleichzeitig eine Voraussetzung!) des Bewusstseins etwas zu untermauern, folgende zusätzliche (neben der weiter oben angestellten bezüglich der Filmrolle) Überlegungen:

Wenn ich einen Ball zu Boden fallen sehe, so sehe ich als Mensch immer nur einen winzigen Teil dieses Fallens. Zuerst sehe ich den Ball ganz oben, dann etwas tiefer, wieder etwas tiefer, schliesslich in der Mitte seines Falles, und so weiter. Dadurch kann ich den ganzen Vorgang auch erst als Fall wahrnehmen, als Bewegung.

Angenommen, ein anderes Wesen (und nun erschaffe ich mir doch noch meine Dämonen) sähe denselben Ball. Dieses Wesen allerdings nimmt nicht unendlich kurze Augenblicke wahr, sondern immer nur Zeitabschnitte, die einigen Zehntelssekunden unserer Zeit entsprechen (nun gut, dies ist ziemlich schwer vorstellbar – aber schliesslich ist Phantasie eine der wichtigsten Geistesgaben. Und ausserdem verweise ich auf das Experiment mit den zwei aufeinanderfolgenden Tönen, das ich in Kapitel 1 erwähnte – auch der Mensch scheint ihm zufolge "Zeithäppchen" zu erleben, die durchaus länger sind als "unendlich kurz"). Es sähe also beim Sturz des Balles vielleicht nur zwei solche Zustände: den Ball in der oberen Hälfte und den Ball in der unteren Hälfte seines Falles. Diese zwei Informationen wären gerade ausreichend, damit das Wesen feststellen könnte, dass der Ball seine Position verändert hat, dass eine Bewegung stattfand.

Was nun, wenn ein drittes Wesen ins Spiel kommt, eines, dass immer nur Zeiträume von einer unserer Minuten wahrnimmt? Es sähe den Fall des Balles als Ganzes, nicht als Bewegung, sondern vielmehr als Zustand. Wenn wir ein Bild ansehen, können wir auch nicht sagen, welcher Pinselstrich wann gemacht wurde. Genausowenig könnte das Wesen sagen, wann der Ball wo war. Es würde diese Fragestellung nicht einmal verstehen. Es nähme keine Bewegung wahr.

Das für uns interessanteste Wesen ist das vierte, ich nenne es der Einfachheit halber "Gott". Gott nämlich sieht nicht nur je einen hauchdünnen Moment, er sieht auch nicht in Minutenblöcken, Gott sieht alle Zeit zugleich. Alles geschieht für ihn jetzt, das Universum und alle Zeit darin sind für ihn ein grosses Gemälde, dass er als Ganzes betrachtet. Veränderung gibt es darin nicht, alles ist, wie es ist, war und sein wird. Es gibt also für dieses vierte Wesen nicht nur bezüglich des Balles, sondern bezüglich des gesamten Universums und der Unendlichkeit keine Bewegung, keine Zeit.

Nur des Menschen Beschränktheit auf den Augenblick erlaubt ihm (respektive zwingt ihn dazu), die Zeit zu erfahren.

Die letzte Überlegung ähnelt einer anderen, die ich schon in Kapitel 1 angestellt habe:

Angenommen, ich unterbreche meine Arbeit mitten in diesem Satz, hier, und lasse meine Tastatur eine zeitlang "unberührt" liegen. Meine Tastatur bewegt sich nicht mehr.

Wen würde dies schon kümmern? Wenn meine Tastatur ruhig daliegt, ändert sich um sie herum rein gar nichts, alles folgt seinem normalen Lauf. Ich weite also die Bewegungslosigkeit aus - auf mich selbst; ich sitze still da, absolut (dies ist ein Gedankenexperiment, also bin ich in der Lage, absolut still zu sitzen) ohne jede Bewegung.

Auch dies wird niemanden kümmern, die Zeit geht ja unaufhaltsam weiter, die Uhren ticken, alles läuft wie gewohnt.

Der nächste Schritt ist der, dass ich das ganze Land anhalte. Nichts und niemand rührt sich mehr in der gesamten Schweiz. Wie gesagt, dies ist ein Gedankenexperiment: die Leute stehen still in den Strassen, die Bäume starr in dem nicht blasenden Wind.

Der Rest der Welt denkt sich: "Die Schweizer, die komischen Vögel, sollen tun und lassen was sie wollen; wenn sie sich nicht mehr bewegen wollen, uns soll’s recht sein, die Erde dreht sich auch ohne sie weiter, der Uhrzeiger kreist tapfer um das Ziffernblatt wie immer schon."

Jetzt aber lasse ich das ganze Universum stillstehen: Planeten, Meteoriten, die Flammen der Sterne und tropfende Wasser verharren in vollständiger Ruhe... zehn Minuten, ein Jahr, 10'000 Jahre lang. Dann geht alles wieder seinen Gang, als wäre nichts geschehen (es ist ja auch nichts geschehen), die Sterne brennen und ich schreibe an meinem Text.

... aber sind die 10'000 Jahre wirklich vergangen? 10'000 Jahre vergehen dann, wenn die Erde 10‘000 mal um die Sonne kreist. Sie vergehen dann, wenn der Stundenzeiger 87‘600‘000 Mal die Runde macht. Wenn Wasser den Fluss runter fliesst, wenn Ebbe und Flut sich ablösen, wenn die Vögel 10'000 Mal in den Süden ziehen und von dort wiederkehren. Das taten sie aber alle nicht. Nichts hat sich bewegt. Es gibt nichts, an dem wir messen könnten, wieviel Zeit vergangen ist. Es gibt nichts, an dem wir messen könnten, ob die Zeit vergangen ist! Kurzum das Fazit: folglich ist auch keine Zeit vergangen. Ohne Bewegung keine Zeit.

Das haben wir schon wiederholt festgestellt. Nun aber muss man sich fragen, ob Bewegung alleine schon ausreicht, um "Zeit" hervorzubringen. Ist nicht vielmehr auch ein Bewusstsein vonnöten, das diese Bewegung wahrnimmt, das sie erlebt?

Das Universum an sich, der unbelebte Teil davon, existiert ohne Zeit. Es existiert in unendlich vielen verschiedenen Zuständen, die es selbst nicht voneinander unterscheidet. In jedem möglichen Moment spielt es für die toten Steine und Eisblöcke in den Höhlen des Saturn keine Rolle, ob sie schon vorher existiert haben und ob sie es nachher auch tun werden. Das Universum ist "für sich selbst" jeden Moment neu entstanden, hat mit allen anderen Universen und Zuständen davor und danach nichts zu tun. (Um in etwas bescheideneren Dimensionen dasselbe auszusagen: der fliegende Pfeil ist von sich aus "gesehen" jeden Moment ein anderer, neuer Pfeil, an einem neuen Ort, in einer neuen Umwelt. Der Pfeil, der in der Zielscheibe feststeckt, hat mit dem, der den Bogen verliess, nichts zu tun)

Nun kommt der Mensch - und stellt einen Zusammenhang her. Verbindet einander folgende Augenblicke mit seinem Verstand, mit seinem Bewusstsein. Erkennt Entwicklungen, Veränderungen, "logische" Abläufe in dem bisher chaotischen Nebeneinander von Universen. Erfindet, da er das gleichzeitige "Nebeneinander" verschiedener Zustände nicht erfassen kann ihr Nacheinander. Und mit diesem Nacheinander erfindet er auch die Zeit. Diese packt er zuletzt – mit Hilfe der Physik – in Zahlen und Formeln. Erforscht schliesslich mit Begeisterung das, was er selbst gerade eben geschaffen hat.

Ob diese These stimmt? Wenn ein Baum im Wald fällt, und niemand hört ihn fallen, gibt es dann ein Geräusch? Wenn ein Universum sich bewegt, und niemand sieht diese Bewegung, gibt es dann die Zeit?

Zuletzt möchte ich noch auf die Frage zu sprechen kommen, welche Entwicklung das Bewusstsein in der Zeit nimmt – gerade weil mir dazu so viele schöne Theorien vorgestellt wurden (die folgenden Abschnitte schweifen übrigens weit vom Thema ab).

Nachdem das Bewusstsein sich die Zeit (oder die Zeit sich das Bewusstsein?) geschaffen hat, wie geht es nun mit ihr um, das heisst, was wird es in ihr entdecken oder erschaffen? Wird es vielleicht sich ewig im Kreise drehen, in einer Spirale, oder sonstwie stagnieren?

Der meiner Meinung nach grösste Trugschluss, den man bei der Behandlung solcher Fragen machen kann ist der, dass man voraussetzt, es gäbe eine "grösste Wahrheit", ein "letztes Ziel" der Menschheit (und es geht in diesem Text nur um die Menschen). Eine Erleuchtung, die irgendwo oder irgendwann auf uns wartet – die wir vielleicht einmal erlangen werden oder auch nicht. Selbst wenn man diese Erleuchtung als grundsätzlich unerreichbar annimmt, hat man sein Modell der Bewusstseinsentwicklung schon fast kaputt gemacht, wenn man sie dort hineinplaziert.

Ich will nicht behaupten, eine "echte Wahrheit", ein "Ursinn" sei nicht existent. Ich bezweifle es, aber will bestimmt nicht alle Hoffnung fahren lassen. Aber wer diese Wahrheit in sein Modell der Entwicklung des Bewusstseins einflechtet, kommt nicht umhin, allerorten werten zu müssen; "Dieser Schritt ist richtig, jene Veränderung führt vom rechten Wege ab, dies ist eine unwahre Aussage, ... [und so weiter]". Ist es wirklich denkbar, dass manche Menschen schon teilweise hinter die Kulissen des Daseins blicken, während andere noch völlig ahnungslos sind?

Da hilft es auch nichts, zu sagen, alle Menschen seien immer gleich weit vom Ursinn der Welt entfernt (und werden es immer sein) – denn dann hat man nicht nur das Problem, dass man einen vielleicht nicht existenten Ursinn voraussetzt, sondern auch noch das, dass man alle Menschen zu orientierungslosen Wesen gebrandmarkt hat, die keine Chance haben, der Wahrheit, die in diesem Modell ja existiert, jemals auch nur einen Schritt näherzukommen. (Weniger falsch finde ich es, wenn man die Menschen als ahnungslos in einem sinnleeren Universum annimmt)

Ewige, sinnlose Wiederholung andererseits scheint wohl den meisten die grausigste Vorstellung. Es gibt keinen Grund mehr, weiterzuexistieren, wenn man sich nicht erhoffen kann, eine Veränderung werde eintreten, ein neuer Blickwinkel sich eröffnen.

Uns Menschen geht es in mancherlei Hinsicht wie einem kleinen Kind, das in den dunklen, unbekannten Keller gesperrt wurde. Es tastet mit blinden Händen um sich, kennt weder sein Umfeld noch dessen Gesetze. Dem Menschen geht es aber noch schlimmer: geworfen in ein Leben, in ein Universum, von dem er weder die wahre Natur noch den Sinn und Zweck kennt, muss er irgendwie zurechtkommen, ohne allzusehr Gefahr zu laufen, das komplett Falsche zu tun. Er hat zwar seine handvoll Sinne (keinen Sinn leider, nur Sinne!) und seinen Verstand mitbekommen, aber auf beide kann er sich nicht verlassen, solange er nicht sicher weiss, ob er innerhalb oder ausserhalb Platons berühmter Höhle lebt.

Wie das Kind im dunkeln Keller stellt sich auch der Mensch dabei am besten an, wenn er sehr vorsichtig um sich tastet, versucht, Dinge über das Leben zu erfahren, ohne etwas dabei zu zerbrechen oder zu übersehen. Wenn er also in das Dasein grob und gewaltsam einen festgesetzten, dogmatischen Sinn hineinhämmert, beschädigt er unter Umständen etwas, was im Dunkeln liegt, findet er vielleicht nie aus dem "dunkeln Keller" hinaus.

Deshalb bin ich immer sehr vorsichtig damit, welchen Aussagen ich zustimme – ein Blinder sollte auch nicht den Regenbogen beurteilen. Aber es gibt eine einzige Aussage, der ich absolut zustimmen kann: ‚wer als Mensch geboren wurde, der soll so handeln, wie sein Menschsein es ihm vorschreibt‘.

Dies ist eine sehr simple und wenig originelle Aussage. Vielleicht wird sie aber zu selten wirklich ernst genommen, selbst wenn sie sehr einleuchtend ist; wenn wir alle nur ahnungslose Irrende sind, weshalb soll dann das "wahr" sein, was mir zum Beispiel die Vertreter der Religionen vorschreiben? Weshalb sollen die Führer der politischen Parteien erkannt haben, was "wahr" ist? Wie sollte irgendwer aus Fleisch und Blut einen Massstab der Wahrheit für mich aufstellen, wenn er doch genauso ein Suchender ist wie ich?

Damit meine ich nicht, dass man stur und untolerant sein soll, im Gegenteil: gerade deshalb, weil wir alle so ratlos sind vor dem Rätsel der Existenz sollte man alle mögliche Hilfe annehmen, ihm etwas auf die Spur zu kommen. Die Ideen aller Religionen, die Gedanken aller Philosophen nachzuvollziehen versuchen. Aber der letzte, ultimative Massstab kann unmöglich einer sein, der ausserhalb von einem selbst steht. Was "für mich nicht stimmt", um es etwas salopp auszudrücken, kann mir niemand doch als richtig verkaufen.

Diese Einstellung, dass jeder sich selbst der höchste Richter sein soll, mutet vielleicht gefährlich an. Aber nur auf den ersten Blick.

Denn, erstens: jedes Gericht, jedes Gesetz, jede Wertvorstellung stammt schlussendlich auch nur wieder aus den Vorstellungen eines einzelnen Menschen. Sie wurde im Leufe der Jahre wohl ausgekleidet, verallgemeinert, dogmatisiert. Aber sie fusst doch im Grunde auf den Ideen eines Menschen.

Zweitens: wenn ich sage, man soll darauf hören, was einem das eigene Menschsein vorschreibt, meine ich damit die wirklich innerste, allertiefste Stimme. Diejenige, die unter all den Schichten von Erziehung, Glaube (also insbesondere auch fundamentalistischem Irrsinn), politischer Zugehörigkeit und sonstiger Einflussnahme liegt. Die, auf der das alles aufgebaut wurde, die so ursprünglich ist, dass sie uns leider die meiste Zeit verborgen bleibt. Und ich bin überzeugt davon, dass diese Stimme jedem Menschen das Selbe sagt, eben deshalb, weil er ein Mensch ist, und erst durch diese Stimme zum Menschen wird (leider fehlt mir die Kenntnis humanistischer Philosophen und Werke, aber ich bin mir sicher, dass sich dort ähnliche Gedanken finden und zitieren liessen, ein ähnlicher Glaube daran, dass alle Menschen eigentlich die selben Werte und Motivationen in sich tragen).

Sie (diese innerste Stimme) ist die möglicherweise höchst unvollkommene Grundlage der Menschheit. Und falls sie uns etwas zu tun oder denken vorschreiben sollte, das dem wahren Sinn des Universums zuwider läuft, dann sind wir eben nicht dazu geschaffen, diesen zu ergründen. Niemand erwartet vom quakenden Frosch im Gartenteich, dass der die Weltenformel findet - diese Fähigkeit ist ihm wohl nicht gegeben. Und vielleicht sind wir Menschen eben auch nur grosse, sprechende "Frösche". Und wir unterscheiden uns nur darin vom grünen Frosch, dass unser Schicksal (dieses Wort ist mir eigentlich richtiggehend verhasst, aber hier gibt es wohl kein passenderes) nicht ist, zu quaken, sondern dem Sinn des Lebens hinterherzulaufen. Ungeachtet dessen, ob es ihn gibt oder nicht und ob wir ihn je einholen können.

Die Entwicklung des Bewusstseins des Menschen in der Zeit ist also (aus-?)schliesslich von seinem Menschsein geprägt. Und dies zwingt ihn (unter anderem) zu ewiger Neugier, ewigem Streben. Ich habe ja wiederholt erwähnt, dass eine letzte Wahrheit in meiner Vorstellung nicht notwendiger Teil des Modelles ist. Und so ist gut möglich, dass der Menschen Streben ins Leere zielt, dass das Bild des Wanderers in der Wüste, das ich im zweiten Kapitel gebrauchte, zutrifft. Dass die Wüste kein Ende hat.

Aber der Umstand, dass wir dennoch dauernd nach ihm suchen, kennzeichnet uns als Menschen. Wenn wir diese Suche, diese Hoffnung aufgeben, sterben wir ab, innerlich zumindest. Wir sind "Wie eine der langbeinigen Zikaden, Die immer fliegt und fliegend springt Und gleich im Gras ihr altes Liedchen singt" (Goethe, Faust, Verse 288 ff), wie Goethe böse spottend den Mephistopheles feststellen lässt. Unsere Sprünge führen uns zwar nirgends hin, aber indem wir sie immer wieder neu in Angriff nehmen, erfüllen wir unser "Schicksal", unsere "Funktion" als Mensch. Es gilt der wohl alte Spruch: der Weg ist das Ziel.

In diesem Sinne spielt es meiner Meinung nach keine Rolle, ob man die Entwicklung des Bewusstseins als Kreis, Spirale, Pfeil oder wie auch immer darstellt – der eingeschlagene Pfad der Entwicklung ist weniger wichtig als die Motivation, die Kraft, die den Menschen vorantriebt.
 
 

Ein Modell

Ich glaube, ein Text, der sich mit philosophischen Fragen beschäftigt, kann und darf nicht mit einer doppelt unterstrichenen Schlussfolgerung enden. Die würde ich deshalb gerne vermeiden und anstelle ihrer ein kleines Modell aufstellen, das die in den drei Kapiteln vorgestellten Gedanken zusammenfasst und ergänzt.

"Was ist ein Modell anderes als eine doppelt unterstrichene Schlussfolgerung?" kann man einwenden. Zugegebenermassen bestehen zwischen den beiden unter Umständen keine grossen Unterschiede, aber im Wort "Modell" klingt zumindest ein bisschen mit, dass damit etwas provisorisches, zur Diskussion gestelltes gemeint ist. In dem Sinne;

Im ersten Kapitel habe ich beschrieben, in welcher Zeit der Mensch lebt. Die Stichworte "Augenblick" und "Zeitinsel" sind dabei besonders wichtig. Im zweiten Kapitel stellte ich die Vermutung auf (das heisst eigentlich stellte ich die schon existierende Vermutung vor und stimmte ihren Urhebern zu), dass der Tod für den Menschen sozusagen "die Mutter der Zeit" darstellt. Im dritten Kapitel zog ich aus den vorherigen und weiteren Gedanken den Schluss, dass nur das menschliche Bewusstsein das kennt, was wir mit dem Begriff "Zeit" meinen.

Mehrere Male habe ich im Text auf zwei weitere Bewusstseinsformen verwiesen, denen die Zeit aber verschlossen bleibt: die der Tiere und die der Götter. Diese drei verschiedenen Zeitbewusstseinsformen habe ich in einer Tabelle dargestellt, in der die wichtigsten Merkmale stichwortartig aufgeführt sind.
 
 




Zitierte Literatur

- Pöppel, Ernst (1996), ‘Wie kam die Zeit ins Hirn?’ aus ‘Was ist Zeit’, dtv, München
© 1997 Moritz Gerber