Schweigen

Manchmal frage ich mich, ob es wirklich eine so gute Idee war, das Sprechen zu erfinden. Übrigens befinde ich mich damit in guter Gesellschaft; Prominente wie Trappatoni und Feldbusch beginnen schon damit, etwas zu sagen ohne zu sprechen, während noch Entschlossenere wie Schröder es gar schaffen, zu sprechen ohne etwas zu sagen. Aber zurück zum Thema: wann frage ich mich diese genannte Frage?

Jedesmal, wenn ich mich in der folgenden Situation befinde: Mit verschlafenen Gliedern betrete ich frühmorgends ein beliebiges öffentliches Verkehrsmittel. Noch habe ich die allmorgendlichen, von der Gräue des Alltags und der Unbarmherzigkeit des Weckers hervorgerufenen Suizidgedanken nicht ganz verdrängt, da treffe ich auch schon auf irgend eine Person, die ich irgendwoher kenne...

Dass man diesen jemanden kennt, muss dabei nicht unbedingt heissen, dass man ihn auch kennen möchte! Es heisst aber zumindest, dass man sich mit ihm unterhalten muss. Ein ehernes Gesetz in unserer kommunikativen Welt des Dauergeschwafels; Sei es im Schwimmbad, auf dem Klo oder im Urwald von Utrumbi; das "kleine Sprechen" – der Small-Talk – folgt auf jede Begegnung, so sicher wie das Amen in der Kirche.

Zurück in das öffentliche Verkehrsmittel: Sitze ich also neben einer mir bekannten Person in ebendiesem, so beginnt es in mir sofort fieberhaft zu überlegen, worüber man sich jetzt während der Fahrt unterhalten könnte. Politische Grundsatzdiskussionen fallen aufgrund der nur begrenzt zur Verfügung stehenden Zeit schon einmal weg. Weiterhin kommen all die Themen nicht in Frage, die mich interessieren; was mich interessiert ist schliesslich viel zu intim, als dass ich es mit jemanden besprechen würde, den ich nicht wirklich gut kenne!

Also: keine Politik, nichts Interessantes (manchmal, man will es kaum wahrhaben, überschneiden sich dies beiden Themenfelder!).

Was bleibt ist nicht viel. Man muss beinahe von Glück sagen, dass wir Menschen endlich ein paar Löcher in die Ozonschicht gebohrt haben: so kann man wenigstens guten Gewissens über das Wetter sprechen! ("Schweinerei, das mit dem Ozonloch! Ach, übrigens, wir haben jetzt für unseren Freddy einen Viertwagen!")

Doch auch in Zeiten von so wundervollen Themen wie Smogalarm und El Nino: der Small-Talk bleibt ein Schrecknis. Machen wir eine kleine Rechnung dazu: ich äussere im Rahmen eines Small-Talks während einer Busfahrt geschätzte 100 Worte, mein Gegenüber hält seinerseits 100 Worte dagegen. Es sitzen in dem selben Bus noch drei andere "Päärchen", also nocheinmal je 200 Worte. Das macht 800 sinnentleerte Worte nur für den einen Bus.

In der Stadt fahren zur selben Zeit mindestens 20 andere Busse, auf jeden davon kommen wieder 800 Worte. Macht 16‘800 Worte für eine Stadt. Wenn ein Land etwa 10 grössere Städte hat, macht das pro Land 168'000. Multipliziert mit der Anzahl von Ländern auf der Welt – 150 ungefähr – ergibt das über 25 Millionen Wörter, die während 5 Minuten nur für Small-Talk verwendet werden! Und das alleine in den Bussen!

Meine Schätzung war dabei extrem vorsichtig; 200 Worte pro Gespräch, 20 Busse pro Stadt, 10 Städte pro Land – alles eigentlich zu tiefe Zahlen.

Und jetzt Folgendes: die Luftmoleküle in der Atmosphäre verändern sich im Laufe der Zeit kaum. Es ist eine Tatsache (!), dass wir mit jedem Atemzug, den wir heute machen, mindestens ein Luftmolekül einatmen, das einst auch in Cäsar letzem Todeshauch mitschwang: "Auch du, mein Sohn Brutus?"

Dasselbe gilt wohl für Jesus‘ "Sie wissen nicht, was sie tun!" und für Galileis (angebliches) "Und sie dreht sich doch!"

Ist es nicht schlicht unvorstellbar, dass dieselbe Luft nun dazu dient, hundertmillionenfach "Ich hatte für heute mit Regen gerechnet!" und "Ich muss heute noch Mayonnaise einkaufen..." zu intonieren! Brutus würde sich wohl im Grabe umdrehen, wenn er es wüsste, von Cäsar selbst ganz zu schweigen.

A propos "zu schweigen"... das wär‘ doch mal eine gute Idee!
 



© Moritz Gerber