Ich habe in den letzten Jahren viele Stunden,
vielmehr Tage damit verbracht, grübelnd vor einem leeren Blatt Papier
zu sitzen, fest dazu entschlossen, verbissen geradezu, nun irgend einen
der Gedanken, die sich mir im Sturm des Lebens als wichtig erwiesen haben,
schriftlich festzuhalten.
In den allerwenigsten dieser Versuche bin ich
über den ersten Satz hinweggekommen, in den allermeisten konnte ich
mich nicht einmal dazu entschliessen, auch nur das erste Wort aufzuschreiben.
Was ist es, das mich immerzu zurückhält, das wie eine unsichtbare,
unüberwindbare Sperre zwischen mir und dem Schreiben liegt? Diese
Frage ist entscheidend wichtig für mich, eben weil ich das Schreiben
nicht etwa als unangenehme Last empfinde, sondern vielmehr als eine unentbehrliche
Grundlage des Lebens. Nichts in meinen Gefühlen treibt mich vom Schreiben
weg, nein, mein ganzes Herz drängt mich dauernd zum Schrieben hin,
dazu, endlich einige der Fragen, Ideen und Ängste aufs Papier zu bannen,
die mich täglich plagen, trösten und beschäftigen.
Ich sehne mich danach, endlich einen Teil all
der Last dieser Hoffnungen und Sorgen von meiner Brust zu schreiben. Jeder
von uns spürt, dass da Dinge sind im Leben, Dinge, die erforscht werden
müssen, die man nie ganz ruhen lassen kann - nenne man sie den Sinn,
die Frage nach dem Tod, die nach dem Leben, eben das, an und vor dem alle
Worte nutzlos zerbrechen. Jeder spürt diese Fragen, und alle Menschen
versuchen immer wieder, den Antworten auf die Schliche zu kommen, wobei
es ihnen – also uns – oft so ergeht, als ob wir mit Schmetterlingsnetzen
einen Walfisch fangen wollten. So ist es auch mit dem Schreiben. Ich spüre,
dass ich es tun muss, aber ich bin nicht dazu in der Lage.
So bin ich also bisher meist ein Schreibender
geblieben, der nicht schreibt. Das ist eine traurige Sache, etwa wie ein
Vogel, der nicht singt. Weshalb sind mir die Hände beim Schreiben
so eisern gefesselt?
Die erste Frage, die sich jedem stellt, der sich
aufmacht, etwas zu schrieben, ist die, worüber er schreiben solle.
Schreibt man einen Einkaufszettel, einen Liebesbrief oder auch einen Aufsatz,
so ist man dieser Sorge entledigt; solch ein Text hat einen bestimmten
Zweck und sein Thema ist im voraus vorgegeben. Anders ist es, wenn man
sich aus eigenem Antrieb heraus entschliesst, völlig frei irgendetwas
zu schreiben. Wenn also nicht eine bestimmte Not oder Notwendigkeit einen
zum Schreiben drängt, sondern das Leben an sich.
Man sitzt also vor seinem leeren Blatt und lässt
sich die verschiedensten Dinge durch den Kopf gehen. Es gibt eine Vielzahl
an Problemen, die einen unaufhörlich beschäftigen. Aber sobald
man eines von ihnen herausgreift und ins Auge fasst, darüber nun zu
schreiben, kommen einem sofort unzählige Zweifel...
Wir Menschen sind wie ein Haufen Kinder im dunkeln
Wald. In einer Umgebung, von der wir nichts wissen, stolpern wir durchs
Dunkel, darauf hoffend, dass uns irgendwo ein Licht erwartet, ein Weg hinaus
aus den gähnenden Schatten. Geworfen in ein Universum, das unendlich
gross und rätselhaft ist, gestrandet auf einem Erdklumpen irgendwo
links vom Saturn, ahnungslos darüber, woher wir kommen, wohin wir
gehen und wer wir überhaupt sind. Schreibt nun irgendjemand von uns
Menschenskindern irgendeinen Gedanken auf, so liegt die Vermutung nahe,
er habe etwas Wichtiges erfahren, etwas Grundlegendes erkannt, von dem
er will, dass es nicht verloren oder vergessen werde. Alle tappen im Nichts,
und einer ruft nun plötzlich: “Hört mal her, ich habe etwas gefunden!”
Jedoch – seien wir ehrlich; da ist nichts, was
derjenige gefunden haben könnte. Des Menschen beschränkter Intellekt,
sein kümmerliches bisschen Verstand, das schmächtig wirkt neben
dem mächtigen, über allem thronenden und alles unbarmherzig niederdrückenden
Viehinstinkt, den wir noch von den Affen und unseren anderen tierischen
Vorfahren geerbt haben – sie, der zarte Intellekt und der scheue Verstand,
sie sollen in der Lage sein, etwas über die wahren Rätsel der
Existenz herauszufinden? Bestimmt ist dies unmöglich.
Noch viel unwahrscheinlicher ist es, dass gerade
ich, ein junger Knirps von 21 Jahren, eine der Antworten gefunden haben
soll, nach der schon Platon, Aristoteles, Seneca, Kant und Freud vergebens
durch alle Zeiten hindurch geforscht haben! Rufen wir uns all jene weisen
Frauen und Männer ins Bewusstsein, die durch die Jahrhunderte der
Zivilisation ihre ganze Lebenskraft dazu aufgewandt haben, ein bisschen
etwas über das Leben herauszufinden und niederzuschreiben. Denken
wir an den Urmenschen, in kalter, moosbewachsener Höhle, beim Betrachten
der züngelnden Flammen seine Seele entdeckend, die ihn für immer
aus dem sicheren Kreis der Tiere in die kalte Suche des Menschseins hinausstiess;
den alten Römer, der in sturmumtoster Nacht zu zweifeln beginnt, ob
Reichtum und Macht diese unendliche Leere, die er immer wieder in sich
fühlt, jemals auszufüllen vermögen; den Mönch im mittelalterlichen
Kloster, dem beim Bibellesen blasphemische Gedanken kommen, der sich bange
fragt, ob Gott denn wirklich immerzu über ihn wache, ob nicht Gott
nur ein Teil seiner eigenen, sündhaften Seele sei.
Tausende, Millionen, Heerscharen an Menschenköpfen
und -herzen sind an solchen Fragen zerbrochen, nicht ohne dass diese Menschen
zuvor noch festhielten, worüber sie nachgedacht hatten und zu welchen
vorübergehenden Schlüssen sie gekommen waren. Aus diesen gesammelten
Erkenntnissen setzt sich unsere Literatur nun zusammen, sie füllen
unsere Bibliotheken und allgegenwärtigen Büchergestelle. Und
nun frage ich: was soll ich ihm noch hinzufügen, diesem immerwährenden
Kanon menschlicher Unzulänglichkeit, diesem ultimativen Beweis dafür,
dass es auf die wirklich wichtigen Fragen keine Antwort gibt, wie sehr
wir auch nach ihr forschen mögen? Wenn schon all diese einsichtigen
und klugen Menschen am Ende zugeben mussten, dass sie eigentlich nichts
Dauerhaftes herausgefunden haben, was sollte ich dazu noch sagen, schreiben?
Aber wenn ich nicht über eben diese Fragen
schreiben kann, worüber denn sonst? Gibt es denn irgend etwas, das
wichtig genug ist, dass man sich damit beschäftigt, wenn nicht eben
diese Fragen des Lebens, die so grundlegend sind, dass man sie nicht einmal
in Worte fassen kann?
Wozu soll ich über die Schönheit einer
Frau schrieben, wenn in wenigen Jahren Würmer sich durch die leeren
Augenhöhlen ihres toten Schädels winden werden? Soll ich über
den Kummer schreiben, der mich heute beschäftigt, wenn mich morgen
vielleicht ein fallender Stein erschlägt?
Die Menschheit überblickt auf ihren Bildschirmen
mit Hilfe ihrer Satelliten und Radargeräten in jedem möglichen
Moment ungefähr zehn Prozent des Sternenhimmels über uns. Nur
zehn Prozent. Ein Komet könnte unentdeckt auf die Erde stürzen,
gross genug, um alles Leben darauf unverzüglich auszulöschen,
wir würden es erst Minuten vor seinem Aufprall bemerken – oder auch
gar nicht. Ich beginne jetzt, diesen Satz zu schrieben – bevor der Satz
zu Ende ist, könnte ich von dem Aufprall eines solchen Steinkolossen
aus dem All zerschmettert worden sein, ohne je geahnt zu haben, was überhaupt
geschehen war.
Vergänglichkeit ist, es wird an diesem Beispiel
überdeutlich, die einzige Konstante in unserem Dasein. Weshalb also
soll ich schwacher Menschensohn versuchen, etwas festzuhalten? Festzuhalten
auf dünnem, zitternd-bleichem Papier? Der grausame Wind der Zeit reisst
sowieso alles unverzüglich fort. Weshalb also schreiben?
Natürlich gibt es eine Fülle an Gedanken,
die mich dauernd hin- und herreissen. Es gibt meiner Meinung nach wohl
nichts wichtigeres als die Philosophie. An ihr reibt sich der Mensch dauernd,
ihre Fragestellungen stechen ihm dauernd ins Fleisch. Sie ist – wie ich
schon an anderer Stelle bemerkte – für den Menschen das, was das Sandkorn
für die Muschel ist: der Kern einer werdenden Perle. Sie wird eben
dadurch wertvoll, dass sie einen nie in Ruhe lässt. Der Mensch ist
nur Mensch, wenn er nachdenkt. Der Mensch ist nur Mensch, wenn er kreativ
ist.
Schon in der Bibel wird darauf verwiesen, dass
es der Mensch ist, der allen Dingen ihren Namen gab. Der Mensch ist es,
der die Welt einordnet, untersucht, erforscht. Es liegt in seiner Gottähnlichkeit,
dass er mit dem Status Quo immer unzufrieden ist, und so muss er immerfort
weitergehen, Neues erleben, entdecken, erschaffen. Deshalb ist auch ein
leeres Blatt Papier so eine Herausforderung nicht nur für mich, sondern
für jeden Menschen. Ein Blatt Papier ist wie eine Stelle, bei der
ein Stück der Welt hinausgerissen wurde; die Lücke muss wieder
gefüllt werden. Es ist wie ein unberührter Sandkasten; man muss
darin etwas aufbauen. Es ist wie eine einsame, stille Nacht; es muss in
ihm gedacht werden.
Also helfen all meine Zweifel nicht, die ich
am Schreiben habe, ich werde doch immer wieder zum Schreiben gedrängt.
Ich bin ein Mensch und als solcher immer unterwegs in Richtung Glück,
in Richtung Antwort nach dem Sinn des Lebens – muss ich auf dem Weg dorthin
nicht die überall auftauchenden drängenden Fragen irgendwie festhalten?
Aber wenn ich schreibe, sind es dann wirklich
meine Gedanken, die schliesslich auf dem Blatt landen? Ich bin ja nicht
aus dem Nichts gekommen. Ich habe eine unendliche Reihe von Ahnen und Urahnen,
bin eigentlich nur eine Verlängerung derer Geninformationen – eigentlich
kein neu entstandenes Wesen, sondern nur ein identisches Glied in einer
Kette darwinscher Glückspilze.
Ich wurde auch und gerade nach der Geburt beeinflusst
von unendlich vielen Faktoren: den Eltern, den Freunden, dem Kindergarten,
der Schule, dem Land, der Sprache, den Büchern – bin ich denn nun
ein eigenes selbst oder nur ein Produkt aus verschiedenen Einflüssen?
Ich mochte zum Beispiel früher keinen Kaffee,
ich trank dafür immer Wasser aus dem Wasserhahn. Doch wie fast alle
Menschen gewann ich im Laufe der Zeit immer mehr Gefallen an Kaffee und
eine immer grössere Abneigung gegen schlichtes Wasser. Inzwischen
bin ich den Weg gegangen, den alle irgendwann gehen; ich mag Kaffee und
trinke nur noch Mineralwasser, keines mehr aus dem Wasserhahn. Jedes Kind
verabscheut zu Beginn Kaffee, sie alle schwören hoch und heilig, diese
Brühe niemals zu trinken – aber sie gehen allesamt am Ende doch den
selben Weg wie alle vor ihnen und alle nach ihnen. Kaffee – das ist ein
unwichtiges Beispiel. Aber ist es nicht mit allem so? Sind wir nicht in
allen Dingen, die wir machen und denken nur die tausendste, millionste
Kopie unserer Vorfahren, und werden unsere Nachfahren nicht auch wieder
genau dasselbe tun wie wir? Worin unterscheiden wir, unterscheide ich mich
denn von allen anderen?
Ich gehe durch die Stadt, erfreue mich an denselben
Schaufensterinhalten wie jeder andere Passant, es läuft mir bei den
selben Bäckereiangeboten das Wasser im Munde zusammen wie allen anderen,
ich falle auf die selben Werbetricks rein wie alle, alle anderen. Ich verfange
mich, versinke, ertrinke in der Masse, die mich hervorgebracht hat, und
die mich nun wieder verschlingen wird.
Was also soll schon in meinen Gedanken sich finden,
was nicht auch alle anderen denken? Wer zittert nicht gensuso jämmerlich
wie ich, wenn er in der Nacht an den Tod denkt? Wer geht nicht genau wie
ich manchmal mit Abscheu allen Menschen aus dem Weg, wenn er merkt, dass
sie ihm echtes Glück nie geben werden? Wer sieht nicht genau wie ich
Abends sein Bild im Spiegel, sieht, dass seine Pupillen sich mechanisch
wie die Linsen einer Maschine bewegen – und zweifelt dann erschrocken daran,
was ein Mensch und was eine Maschine überhaupt sind? Wer nicht wie
ich?
Eben dies verbindet uns Menschen; dass wir alle
diese Fragen stellen, alle diese Probleme haben. Und eben dies hindert
mich am Schreiben; dass dies alles schon gedacht und gefühlt wurde
und jeden Augenblick gedacht und gefühlt wird; die Gefühle scheinen
mir wie alte Lumpen, die durch tausend Hände gegangen sind, abgegriffen
und ausgelaugt. Ich bin ein Menschlein unter allen anderen, wobei alle
die Menschlein sich gleichen wie ein Ei dem anderen, und wobei keiner auch
nur das Geringste mehr vom Leben und der Welt weiss als der andere.
Und selbst wenn. Selbst wenn ich etwas wüsste,
wenn ich etwas gedacht hätte, das aus mir selbst kam, das noch keiner
sonst gedacht hat. Selbst dann wäre das Schreiben eine vergebene Mühe.
Es ist nämlich die Sprache ein zu ungenaues Mittel, um Gedanken zu
transportieren. Die Sprache, die geschriebene besonders, ist ein traurig
schwacher Streiter. Ein Bild schon sagt mehr als tausend Worte. Und selbst
dieses Bild, tausendmal stärker ausdrückend, was sein Schöpfer
festhalten wollte, als die Sprache es je könnte, kann einen niemals
so fesseln, einen niemals so sehr übermannen wie die Musik.
Diese ist nämlich überhaupt das Erschütterndste,
Packendste und wohl auch das der Wahrheit am nahesten Kommende, was der
Mensch geschaffen hat und schaffen kann. Sie, die Musik alleine,
vermag es, Wellen der Sehnsucht, der Freude oder Trauer den Menschen in
Schwärmen durch die Gebeine zu jagen. Hört man die richtige Musik,
so taucht man ein wie in einen Fluss, lässt sich fallen und schwebt.
Wer kann schon mit Worten ausdrücken, was er fühlt, wenn ihm
inmitten eines von ihm geliebten Stückes beinahe die Tränen kommen,
einfach weil es so schön ist?
Den Komponisten gehört unter den Künstlern
meine allergrösste Achtung, sie alleine stimmen mich mitunter versöhnlich
mit der Kälte des Daseins. Und doch können auch sie das, was
sie vermitteln wollen, niemals wirklich und unverfälscht dem nächsten
Menschen weitergeben. Denn so mächtig die Musik auch in den Gefühlen
eines Menschen Wogen schlagen kann, so ist doch auch sie unglaublich unpräzis
und vieldeutig.
Weckt ein Stück beim ersten Hörer Melancholie,
so wird der zweite davon hoffnungsfroh – findet der dritte es heiter stimmend,
so wird der vierte davon traurig. So ist jedes Werk der Musik wie ein grosses
Feuerwerk, ein Himmel voller farbiger Explosionen, hell, dunkel, gross,
klein – welche dieser Explosionen sind dem Komponisten wirklich am Herzen
gelegen? Wer kann’s wissen?
Will man also die Gefühle, die einen in
einer kalten Frühjahrsnacht unter dem tiefen Sternenhimmer befallen
einen anderen nachfühlen lassen, so wird man bei dem Versuch immer
scheitern. Sprache, Bild und Musik sind zu grobe Werkzeuge dafür,
und ein feineres hat bisher auf unserer Erde niemand gefunden.
Alle diese Gedanken fallen sofort geballt über
mich her, wann immer ich mich ans Schreiben mache. Sie lähmen mich,
entsaugen mir alle Kraft und versuchen meine Gedanken irgendeiner Ablenkung
zuzuwenden. Das erste Wort steht oft schon nackt und schutzlos da, verloren
in der grossen, leeren Wüste des weissen Blattes.
Die ganze Menschheit, alle Ahnen und Urahnen
scheinen auf mich herabzusehen wie der Richter von der hohen Kanzel. Tausende,
Millionen, zig Milliarden von eisigkalten Augenpaaren spiessen mich mit
ihren Blicken auf, prüfen unbarmherzig, ob ich ein Recht habe, zu
schreiben. Erzähle ich etwas Neues? Berichte ich etwas Nützliches,
Sinnvolles? Schreibe ich etwas Wahres?
Was ist das Schreiben denn überhaupt? Es
ist Sprache. Es ist eine Anhäufung von Worten. Was sind denn Worte?
Worte sind nur Masken, die wir über unsere Gedanken streifen müssen,
um diese sichtbar zu machen. Den Wind selbst kann man nicht sehen, wohl
aber das Wiegen der Blätter, die er bewegt – so ist es auch mit den
Gedanken. Die Worte machen sie erkennbar.
Und die Gedanken werden immer verfälscht.
Die Sprache ist zu ungenau, um eines Menschen Gedanken richtig beschreiben
zu können. Hat der Mensch ein Gefühl, das er einem anderen mitteilen
will, so muss er es erst in Worte fassen – dabei wird der anfängliche
Gedanke schon etwas abgewandelt. Nun hört der zweite Mensch diese
Worte und übersetzt sie wieder in Gedanken. Erneut wird der ursprüngliche
Gedanke verfälscht, zum zweiten Male. Glücklich ist also der,
dessen Gedanken den Anderen auch nur halbwegs unversehrt erreichen.
Es sind die Seelen der Menschen wie Städte,
die durch zerfallene, zerbröckelnde Brücken – die Sprache – miteinander
verbunden sind. Beängstigend an dieser Tatsache ist, dass niemals
ein Mensch einen anderen wirklich verstehen wird, da nichts und niemand
unbeschadet über eine dieser Brücken kommen kann.
Wir stecken alle in unserer “Stadt” fest. Alleine.
Und diese Stadt, unsere Seele, ist sehr dunkel, sie ist gross, labyrinthisch,
und in ihren Ecken und Winkeln lauern zahllose Fragen, Ängste und
böse Ahnungen, die uns jederzeit befallen können. Ein jeder hat
in seiner Brust eine solche Stadt, und wenn er mit sich alleine ist, wird
er sich ihrer voll bewusst. Die Sprache – das heisst, um beim vorherigen
Bild zu bleiben: die Brücken – mögen noch so verfallen sein,
konfrontiert mit all diesen Fragen versucht ein jeder, mit anderen Menschen
Kontakt aufzunehmen. Dazu ist die Sprache da: es den Menschen zu ermöglichen,
gemeinsam nach den Antworten auf all diese Zweifel zu suchen, gemeinsam
durch das Labyrinth des Daseins zu irren. Um so unglücklicher, dass
sie so ein unzulängliches Mittel ist.
Dir, Leser, soll ich also schreiben, dass ich
dieselben Ängste habe wie Du, dass ich so ratlos bin wie Du, und dass
ich wie Du nie zu hoffen aufhöre, es möge sich doch ein Sinn
finden, eine Richtung, in die unser Menschsein strebt. Und ich soll Dir
schreiben, was ich so herausgefunden habe über das Leben.
Wie wenig es ist, und doch wie viel! Wenig ist
es, weil nichts von dem, was ich weiss, wirklich sicher ist. Nichts ist
beständig daran, und nichts ist dabei, das ich alleine erkannt hätte,
das nicht schon vor und nach und mit mir gedacht wurde.
Viel ist es, weil ich täglich, stündlich:
atme und mit den Augen zwinkere und ein Mensch bin und denke und mich freue
und traurig bin und immer denke und spreche und hoffe und verzweifle und
wieder denke. Sollte ich aufschreiben, was ich von der Welt halte, was
ich über das Leben denke, wo sollte ich dann anfangen? Wenn ich einmal
tot bin, dann soll man nicht sagen können: “Er hat sich viele Gedanken
über dieses gemacht”. Ich war und bin – wie wir alle – ein ganzer
Mensch, der nicht nur über dieses, sondern auch über jenes, ja
über alles nachdenkt, alle Dinge zu erfassen versucht, wenn ich dabei
auch jämmerlich scheitere. Schreibe ich davon nun einen Gedanken auf,
so geraten die anderen zu sehr in den Hintergrund. Schreibe ich gar keinen,
so liegen sie alle mir weiterhin schwer auf meinem Herzen.
Aber ich habe schon erwähnt, dass das Schreiben
für mich ungeachtet all dieser und noch vieler anderer Einwände
keine Last ist, die ich zu vermeiden suche. Das Schreiben ist im Gegenteil
sehr wichtig in meinem Leben.
Was ist denn das “Leben”? Was heisst das: “ich
lebe”? In der grauen Dumpfheit des Alltags, auch im kopflosen Gewühle
der Momente der Freude, beim Essen, Trinken, Schlafen, Arbeiten – lebe
ich da? Wenn ich mir im Kino einen Film ansehe, wer lebt da – die Figuren
auf der Leinwand oder ich? Ich sauge ja nur in mich hinein, verschlinge
Bilder, Töne, Worte, Menschen, Gefühle, wie ein schwarzes Loch.
Ich lebe nur deshalb, weil die Leinwand für mich lebt.
Und wenn ich Musik höre, wenn ich ein Buch
lese, wenn ich ein Spiel spiele, wenn ich ein Festmahl verzehre – bin ich
dann wirklich unmittelbar am Leben dran? Die Musik, das Buch, das Spiel,
die Speisen, sie stehen doch vielmehr zwischen mir und dem Leben, sie erfreuen
mich und lenken mich ab von all dem, was wirkliche Bedeutung hat.
Wir hasten von der einen Vergnügung zu der
anderen, hin und wieder etwas Unangenehmes auf uns nehmend, damit wir Geld
genug und Zeit genug haben, uns wieder den Vergnügungen zu widmen.
Aber wenn wir einmal innehalten und uns fragen: was ist mein Leben? Wann
und wie lebe ich es? – dann sehnen wir uns nach etwas anderem, etwas nicht
erfassbaren, das wir aber doch unbedingt brauchen. Wir wollen Klarheit,
Erkenntnis, Einsicht.
Die Momente, in denen wir wirklich leben, das
sind die Momente, in denen wir die Zeit und das Bewusstsein dazu haben,
dass wir uns sagen können: “Ich lebe jetzt! Jetzt atme ich ein, um
mit neuer Luft weiterleben zu können, jetzt atme ich aus, um die ‘verlebte’
Luft loszuwerden.” Man muss in so einem Moment nicht alleine sein, oft
ist man es nicht. Wenn man mit einem Freund ein ehrliches, wichtiges Gespräch
hat, so ist man sich auch des Lebens bewusst. Wenn man mit jemanden schweigend
die Sterne betrachtet, so ist man sich auch bewusst. Wenn man mit anderen
in der Stille dem Klopfen des Regens lauscht, auch dann lebt man.
Und eben auch, wenn man schreibt. Wie könnte
man näher dran sein an dem, was wir den Sinn nennen, was wir “Ziel”,
“Weg”, “Ursprung”, “Gott” oder wie auch immer heissen, als indem man sich
beim Schreiben absolut auf eine Frage konzentriert, durch nichts abgelenkt
vor der weissen Ebene des Papiers? Wie könnte man bewusster leben,
als indem man über das Leben selbst schreibt?
Schreiben heisst Leben, deshalb gebe ich den Kampf
mit den unbarmherzigen schneeweissen Blättern niemals auf.
© Moritz Gerber