An den Rekruten Meier...
Dir ist es vielleicht gar nicht bewusst, was für
eine schwere Aufgabe Du mir gestellt hast. Es war für Dich wohl kaum
mehr als eine Bitte nach einem kleinen Gefallen, als Du mich gebeten hast,
Dir „einmal einige philosophische Worte in den Militärdienst zu schicken“.
Es gebe Dir im Militär einfach zuwenig davon
– zuwenig Philosophie. Ja, Du hörest gar „selten Sätze mit mehr
als vier Worten“! Nun, wenn es nur das wäre, so würde ich Deinen
Wunsch gerne doppelt und dreifach erfüllen – schon der erste Satz
dieses Briefes hat 14 Worte, und zwar ohne dass ich es darauf angesetzt
hätte.
Aber nur die reine Zahl ist kaum, wonach es Dich
drängt. „Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört,
Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.“ sagt Mephisto im
Faust. Anders als die von ihm verspotteten Menschen aber weiss Mephisto,
dass nur allzuoft am selben Platz viele Worte stehen und doch nur wenig
Sinn.
Du, der Du durch finstere Kasernen eilst, darauf
bedacht, unnütze Dinge zu unnützen Zwecken in unnützer Zeit
zu erledigen – und dabei beaufsichtigt zu werden von Menschen ohne Ziel
– bist bestimmt müssig der sinnlosen Worte, und so hast Du mich gebeten,
ein paar der anderen Art zu verfassen.
Doch so einfach man auch darum bitten kann, um
„ein paar philosophische Worte“, so schwer sind sie dann zu schreiben.
Denn damit sie Dich in Deiner Situation erreichen können, damit Du
sie beim Lesen verstehen und glauben kannst – wie stark müssen diese
Worte dazu sein! Während man beim Philosophieren versucht, sich nach
den höchsten Gipfeln des Menschseins zu strecken, während man
Dinge wie „Liebe“, „Sinn“, „Erfüllung“ und „Erkenntnis“ zu verstehen
sucht, so tut man im Militär ganz gewiss etwas Gegenteiliges.
Man wälzt sich im tiefsten Sumpfe seiner
viehischen, unmenschlichen Untugenden. Gewalt, Kampf, Stärke, Ausschalten
des Gewissens und des Denkens! Wogen dichten Nebels aus Vorstellungen wie
„Ehre“, „Vaterland“, „Gehorsam“ und „Disziplin“ versperren einem mehr und
mehr die Sicht auf sich selbst und die eigenen Vostellungen, die Sicht
darauf, was ein Mensch überhaupt ist!
„Die Feder ist stärker als das Schwert!“
heisst ein alter Spruch. Oh, wie wünschte ich, dem wäre so! Aber
immer wieder werde ich eines Besseren belehrt. Achten die Menschen mehr
auf ihre Gemeinsamkeiten denn auf die Unterschiede? Versuchen sie, voneinander
zu lernen anstatt einander Vorschriften zu machen? Bemühen sie sich
darum, Gerechtigkeit zu mehren? Nein, das tun sie nicht. Das Schwert –
der Egoismus, die Ignoranz – ist stärker als die Feder – die Vernunft,
die Menschlichkeit.
So sitze ich hier mit nichts als einer Feder,
und soll damit zu Dir durchdringen, wo Du dich doch befindest im Hort aller
Schwerter, im Urpfuhl aller einfachen Lösungen und egozentrischen
Ansichten!
Philosophie, die Du ja von mir gerne lesen möchtest,
ist so viel mehr als einfache Worte. Sie ist das Bemühen darum, nicht
einmal ein besserer, sondern einfach überhaupt ein Mensch zu werden.
Und wie schwer ist diese Aufgabe!
Ich lese im Siddharta: „Nie mehr will ich meine
Augen niederschlagen, wenn eine schöne Frau mir begegnet!“ Und ich
denke: Das ist gut, so will ich es auch halten – denn weshalb sollte ein
Mensch die Augen niederschlagen vor einem anderen Menschen? Und selbst
wenn er es tue, dann aber bestimmt nicht wegen eines so grundlosen Grundes
wie vergänglicher Schönheit.
Aber gehe ich dann hinaus in die Strassen, und
begegne ich einer schönen Frau, so senke ich die Augen, wie ich es
immer tat. Die Philosophie war wohl aufgeschrieben, und ich hatte sie wohl
gelesen, aber in meinem Handeln war sie nicht. Dabei sollte sie gerade
dort sein!
Wenn ich also Dir die Worte schicke: „Menschen,
die hoffen, Probleme mit Gewalt zu lösen, bringen nur noch mehr Unglück
auf sich selbst!“, oder wenn ich dir schreibe: „Wer andere befehlen will,
der ist sich selbst nicht genug – was er mit seinem Kopf und seinen Händen
tun kann, genügt ihm nicht. Er wird also niemals im Leben zufrieden
sein!“, dann stehen wahre Worte in meinem Brief, und Du wirst wahre Worte
lesen – aber wirst Du sie zu Dir nehmen und mit Dir tragen?
So wie ich die Augen vor der schönen Frau
niederschlage, wirst Du nicht auch die Augen niederschlagen vor dem, der
Probleme mit Gewalt lösen will? Und von dem, der andere befehlen will?
Wir Menschen sind zu schwach! In meinen ruhigsten
Stunden vermag ich es, meinen Hass und meine Angst für wenige Minuten
von mir zu stossen und frei zu sein. Kaum seh‘ ich aus dem Fenster oder
höre jemand sprechen, schon falle ich zurück in die tausend sinnlosen
Begierden und Abneigungen. Wenn ich schon in meiner stillen Kammer so von
Affekten hin- und hergeschlagen werde, wie muss es dann Dir ergehen, im
heissen Lastwagen, im kalten Schlafsack, in Reih und Glied?
Mein Brief ist wie eine dünne Kerze im tosenden
Sturm. Sein Licht wird erlöschen, ehe Du es richtig betrachten konntest.
So schwach ist die Feder – so schwach ist zumindest meine Feder.
Aber Du musst die Hoffnung nicht fallenlassen,
denn Du hast die Lösung am falschen Ort gesucht! Wenn Du Philosophie
suchst – warum wendest Du Dich an mich? Philosophie kann man nicht in Briefe
verpacken und herumschicken! „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied!“,
jeder ist sein eigener Philosoph!
Denn Philosophie ist nichts, das sich vom Leben
trennen lässt. Wenn Du den Fluss betrachtest – eine philosophische
Handlung! Wenn Du die Hitze auf Deiner Haut fühlst – eine philosphische
Betrachtung! Wenn Du sagst: „Gerne würde ich jetzt etwas Fisch essen...“
– ein philosophisches Wort!
Dieser Brief ist also auch wie ein Becher in
der Wüste. Du hast ihn ausgetrunken, bevor Dein Durst gelöscht
ist. Du selbst aber bist eine nie versiegende Quelle von Gedanken, Ideen
und von Philosophie – je grösser Dein Durst danach, um so stärker
sprudeln sie!
Gerade jetzt, gerade im Militär, solltest
Du Dich nicht nach anderen richten. Nicht nach deinem Feldwebel, nicht
nach deinen biertrinkenden Gefährten, nicht nach mir. Die Rekrutenschule
ist ein Angriff auf Deine Persönlichkeit, Deine Hoffnungen, Ideale
und Vorstellungen. Alle diese Dinge sollen geschwächt, verdreht, zerstampft
werden, damit Platz da ist für andere, kältere, einfachere Vorstellungen,
die dem maschinenartigen, menschenfeindlichen Apparat „Militär“ nützlich
sind.
Und so muss es im Moment Dein höchstes Ziel
sein, Dich selbst so sehr wie möglich zu schützen und zu wahren.
Ich kann Dir dabei eigentlich nicht helfen. Ich kann Dir Glück wünschen
und Dir versichern, dass auch ich einen ähnlichen Kampf kämpfe.
Denn das tun wir alle.
Familie, Freunde, Vorgesetzte – von ihnen allen
werden wir beeinflusst, und wir müssen dauernd acht geben, dass wir
uns nicht zu sehr an fremde Ideen anpassen, dass unsere Persönlichkeit
nicht verlorengeht in dem Getümmel der Welt. So geht es also auch
uns Zivilisten ähnlich wie Dir, nur dass Du einen brutaleren, umfassenderen,
aber auch offensichtlicheren und einfältigeren Andrang auf Dein „Ich“
abwehren musst.
Freue Dich auf den letzten Tag in der Rekrutenschule. Dann nämlich kannst Du hingehen zu Deinem Feldwebel (oder Oberst, oder Wachmann...), und ihm folgendes Zitat von Benjamin Franklin zu überdenken geben: „Es hat niemals einen guten Krieg und niemals einen schlechten Frieden gegeben.“
Ich wünsche Dir viel Glück und alles
Gute, ich wünsche mir, dass ich nie in Deine momentane Situation gerate!
Dein Freund
(c) 1998 Moritz Gerber