Machbarkeit und Verantwortung
" Es steigt, es blitzt, es häuft sich an,
Im Augenblick ist es getan.
Ein grosser Vorsatz scheint im Anfang toll,
Doch wollen wir des Zufalls künftig lachen,
Und so ein Hirn, das trefflich denken soll,
Wird künftig auch ein Denker machen. "
Faust II, zweiter Akt,
Wagner erweckt den Homunkulus
(den künstlichen Menschen)
"Es steigt, es blitzt, es häuft sich an"
Wahrlich, wir scheinen mehr denn je geradezu umzingelt von grässlich-perfekten Überwesen, den Nachfahren des Homunkulus. Aus dem Nebel aller Zeiten kommen sie auf uns zu; die Geschichte kennt Frankensteins Werk und Hitlers Arier. Die Zukunft Huxleys Menschendrohnen. Die Gegenwart den klassischen Wolf im Schafspelz: Dolly.
Unter diesem Ansturm von Machbarkeit, dieser Ballung von Kontrolle und Macht, muss der heutige Mensch angesichts seiner eigenen Fehlbarkeit bang die Frage stellen, ob für ihn denn noch ein Plätzchen frei sei in der Schöpfung. Ein Logenplatz zumindest scheint es für uns Normalsterbliche, die wir Glatzen und Pickel haben, die wir blind, taub, rollstuhlgängig oder Bettnässer sind, nicht mehr zu sein. Und so häuft sich auch Kritik an der Wissenschaft, es steigt das Misstrauen gegenüber der Wirtschaft. Nur das Blitzen lässt noch auf sich warten.
"Im Augenblick ist es getan"
Nun hat die Medaille, es ist bekannt, nicht nur eine Seite. Stolz wird denn auch allerorts verkündet, wenn nicht "im Augenblick", so doch in Bälde würden Krebs, Aids und andere Menschheitsplagen vor der Medizin die Waffen strecken.
Und nicht nur das: wie einst der Stein der Weisen (beinahe) Blei in Gold verwandeln konnte, so werde - in Bälde – der genetisch manipulierte "Keim der Weisen" karge Wüsten zu üppigen Wiesen machen, den Hunger und die Not von unserer Erde fegen; die Gentechnik als Alchemie des dritten Jahrtausends.
Wer würde das verhindern wollen? Gebietet uns unsere Verantwortung bei solch grosser Machbarkeit nicht, auch Grosses zu machen? Mancher wähnt schon, den Bauplan des Paradieses im Besitz zu haben – wenn ihm nur jetzt keiner den Spaten aus den Händen reisst!
"Ein grosser Vorsatz scheint im Anfang toll"
Aber wie war das nochmal mit dem Paradies? Dem Menschen mangelt es an nichts im Garten Eden, Sorgen und Ängste sind ihm dort fremd. Ausser er isst vom Apfel der Erkenntnis! Ausser er tut, was nur Gott tun darf. Doch arbeiten nicht in den sterlien Labors von Sandoz und Novartis Tausende von weissgeschürzten Adams und Evas pausenlos daran, ganze Berge von Äpfeln in sich hineinzuschlingen, das heisst, Genketten zu analysieren, destillieren, infiltrieren und konjugieren?
So schlimm mag es kaum sein, aber es ist zweifellos wahr, dass der Mensch sich in Dinge einzumischen schon begonnen hat, die in ihrer Komplexität und in ihrem Potential von ihm kaum zu überschauen sind. Und so sind Dolly und die Maus mit dem Menschenohr wohl eher Aus- denn Eintrittskarten in das Paradies.
"Doch wollen wir des Zufalls künftig lachen"
Gestattet sei nun aber die Frage, ob wir Menschen überhaupt im Paradies leben wollen oder sollen? Solange der Mensch nämlich vollkommen von Gottes oder der Natur Willen abhängt, ist er auch unmündig. Wollten die Höhlenmenschen ihr Fleisch gebraten geniessen, so blieb ihnen nichts als auf ein Gewitter, einen Blitz zu warten. War Gott (die Natur, das Schicksal) ihnen geneigt, entfachte dieser Blitz ein kleines Feuer, wo sich herrlich Fleisch braten liess.
Es lag nun aber in des Menschen Natur, dass er nicht vom Zufall abhängig sein wollte (und will). Die Menschen errangen also die Kontrolle über das Feuer, und wenn auch Prometheus seinen Job verlor, so konnten sie zumindest "des Zufalls künftig lachen".
Dadurch erst wurden sie zu Menschen! Sie schliefen in Hütten, arbeiteten mit Werkzeugen, gingen mit Waffen auf die Jagd – und setzten sich so von den Tieren ab. Nicht nur das Bewusstsein, das "Sich im Spiegel Erkennen" definieren den Menschen, nein, auch seine Neugier, sein Drang zur Erkenntnis. Als Eva den Apfel verzehrte, [so] war dies ein kleiner Schritt für den Apfel, aber ein grosser (und der erste) Schritt für die Menschheit.
"Und so ein Hirn, das trefflich denken soll"
Bedenkt man dies, dann hat der Mensch seine Rolle bislang aufs Trefflichste erfüllt; er forschte ohne Unterlass, machte sich die Erde untertan, erfand zahllose nützliche und unnütze Dinge. Seine Macht hat er dauernd erweitert, die Machbarkeit wuchs ständig an.
Aber wie sieht es mit der Verantwortung aus? Die Mündigkeit, die wir gewonnen haben, als wir den Kreis der Tiere verliessen, brachte neben dem Drang nach Erkenntnis und Kontrolle auch das Verantwortungsbewusstsein mit. Doch leider fördern wir dies am wenigsten. Wir, die schon ans Morgen kaum zu denken uns bemühen, die das Gestern schon vergessen haben – wir sollen uns ums Übermorgen kümmern?
Faust sagt es (im ersten Teil des Faust) selbst: zwei Seelen wohnen in seiner, unsrer Brust. Die eine treibt uns zum Instinktiven, Tierischen. Zur Frau, zum Mann, zum Wein, zur Stärke, zur Macht. Die andere strebt nach höherem, nach Einsicht, Erleuchtung. Die Menschheit hat bisher vor allem für das erstere gesorgt, hat sich Träume von Macht und Machbarkeit erfüllt. Doch auch das zweite gehört zum Menschsein: das Mitgefühl, die Verantwortung, der göttliche Funke eben. Der Mensch hat seine Rolle als Herrscher erfüllt. Der Mensch hat seine Rolle als Forscher erfüllt. Aber hat der Mensch seine Rolle als Mensch erfüllt?
[So ein Hirn soll nicht nur trefflich denken, sondern auch trefflich fühlen.]
"Wird künftig auch ein Denker machen"
Die letzte Zeile ist erreicht, es scheint, ein Fazit muss her. Nur: wie soll es aussehen? Frankensteins Monster steht gegen die Krebsheilung, der Respekt vor der Schöpfung gegen den Erkenntnisdrang, die Verantwortung gegen die Machbarkeit. Eine einfache Lösung kann es nicht geben (überhaupt: wann hat es je eine solche gegeben?). Kompliziert wird die Zukunft zu bewältigen sein.
Zum Trost kann man nur sagen: auch wir Menschen sind komplizierte Wesen. Wir können morgens stundenlang über unsere Frisur nachdenken, uns Tage mit den kapputten Scheibenwischern unseres Autos beschäftigen. Wenn solche Kleinigkeiten uns solche Mühe wert sind, wenn wir uns mit solcher Sorgfalt um Details kümmern können, so dürfen wir hoffen, dass grosse Fragen wie der Eingriff in die DNS oder [wie] das Klonen unseren Verstand, unser Gefühl und unsere Phantasie genug anregen, dass wir das Gleichgewicht zwischen Machbarkeit und Verantwortung immer neu finden können werden.
An das Ende dieser Überlegungen passt ein Zitat des britischen Schauspielers Stephen Fry, welches man immer im Kopf haben sollte, wenn der Mensch sich wieder einmal zuviel zumutet: "Wie bringst du Gott zum Lachen? – Erzähl‘ ihm deine Pläne."
© 1998 – Maturaufsatz von Moritz Gerber
(Die Elemente in eckigen Klammern sind aus der ersten Fassung gestrichen)