Das Schulsystem – drei Forderungen eines Betroffenen

"Nach mir die Sinflut." In einem gewissen Sinne gilt dieser Satz für all die Schulabgänger, von denen jedes Jahr unzählige feierlich ihre alten Hefte und Bücher dem Feuer übergeben – und dabei auch gleich jegliches Interesse an der Schule mitvernichten. Sie folgen der eigentlich einleuchtenden Maxime: Hauptsache, man hat selbst das Ganze hinter sich. Etwas daran zu ändern, damit nicht alle späteren Schüler wieder in die selbe Bredouille geraten, das wäre dann doch zu aufwendig.

Schade ist dies vor allem deshalb, weil kaum jemand sonst so gut in der Lage wäre, Stärken und Schwächen des Schulsystems (und damit meine ich in diesem Text vor allem die Mittelschule) abzuschätzen wie eben diese Schulabgänger. Sie befinden sich in einer Zwischenstufe, erinnern sich einerseits noch lebhaft an ihre "Leidenszeit" und haben andererseits doch schon eine gewisse Distanz gewonnen.

Ich selbst habe im Frühling die Matura gemacht. Für mich und meine Kollegen waren "Theorie und Praxis" des Schulsystems im Zurückblicken auf unsere Ausbildung und beim Blick auf die ungewisse Zukunft ein wichtiges Thema. Gerade auch deshalb, weil ich selbst an verschiedensten Einrichtungen Erfahrungen sammeln konnte – an der Montessori-Schule und sowohl an privaten wie auch an öffentlichen Schulen – liess mich die Frage nach den Fehlern der Schule nicht los.

Natürlich bin ich kein Experte in dem Sinne, dass ich die pädagogischen, soziologischen, finanziellen oder gar verwaltungstechnischen Probleme der heutigen Schulen kundig beurteilen könnte. Insofern sind meine Ansichten als Denkansätze eines "Betroffenen" anzusehen, welche nicht den Anspruch auf sofortige Umsetzbarkeit (aber doch den auf Richtigkeit!) erheben.

Allerdings bin ich auch der Meinung, dass nicht immer nur das gedacht werden sollte, was sofort umsetzbar ist. Durch ewiges, geschäftiges Drehen an Schräubchen und Rädchen – das heisst durch Streichung einer Turnstunde und Neuformulierung zweier Nebensätze im Lehrplan – wird aus der Dinosaurier-Institution Schule nie eine moderne, sinnvolle Einrichtung zur Förderung kritischer, selbstständiger Menschen des dritten Jahrtausends.

Meine Überlegungen lassen sich in drei Punkten zusammenfassen:

  1. Die Allgemeinbildung muss allgemeiner und bildender werden!
  2. Die Schüler sollen nicht alle gleich viel / gleich wenig können!
  3. Die Mauer muss weg! (Die zwischen Schüler und Lehrer!)
Dazu nun also je eine kurze Erläuterung:
  1. Die Allgemeinbildung muss allgemeiner und bildender werden!

  2.  

     

    Was heute den Namen "Allgemeinbildung" trägt ist meist ein Vorkurs zur Fachidiotie. Ein paar wenige Themenfelder (Wissenschaften meist) haben sich irgendwie das Prädikat erworben, zum Allgemeinwissen zu gehören, und werden nun dementsprechend den Schülern jahrelang bis ins Detail vorgebetet.

    Unbescholtene Neusprach-Gymnasiasten werden mit mathematischen Haarspaltereien gemartert, die sie dann schon wenige Wochen nach der Matura nicht einmal mehr ansatzweise verstehen. Auch in Geschichte, Chemie und vielen anderen Fächern sieht man oft den Wald vor lauter Bäumen und umgekehrt den einzelnen Baum vor lauter Wäldern nicht.

    Ich will nicht für ein enger gefasstes Angebot werben, im Gegenteil! Die Allgemeinbildung ist ein hehres Gut, das heisst sie wäre es, wenn sie denn gelehrt würde. Gerade in der Schweiz, wo die Menschen in Abstimmungen immer wieder auch zu sehr komplexen Fragen ihre Meinung abgeben sollen, ist es wichtig, dass die Bürger mündig und interessiert sind. Sowieso verlangt unsere "Informationsgesellschaft" von jedem in vielen Fragen ein gehörig umfassendes Mindestmass an Kompetenz.

    Doch es geschieht oft, dass ich mit ehemaligen Schulkollegen spreche und dabei feststellen muss, dass sie zum Beispiel die verschiedenen Schweizer Parteien nicht auseinanderhalten können! Dass sie an Abstimmungen kaum interessiert sind. Dass sie weltpolitisch bedeutende geschichtliche Ereignisse wie etwa die Annektion Tibets durch China nicht kennen. Auch in meinem Kopf klaffen natürlich verheerende Wissenslücken; So konnte ich das Gymnasium durchlaufen ohne alle Schweizer Kantone beim Namen nennen zu können (oder auch nur zu wissen wieviele es gibt!) oder ohne je ein einziges Wort Fontane gelesen zu haben.

    Die Schüler müssen besser informiert werden über Politik, sie sollten öfter mit dem Computer arbeiten und viele Dinge mehr. Dies geht natürlich – und glücklicherweise – nur auf Kosten der "etablierten" Fächer. Niemand will dabei die Mathematik abschaffen, aber nicht jeder Schüler muss das Konzept der Integrale monatelang zu Tode lernen (vor allem dann nicht, wenn er es innert kürzester Zeit wegen Desinteresse sowieso wieder verlernt).

    Verschiedene Interessegruppen haben im Laufe der Jahre ihren Teil des Lehrplanes zurechtgeschustert und dabei das Ziel des Lernens völlig aus den Augen verloren. Ein Schulabgänger sollte in der Lage sein, politische, witschaftliche, wissenschaftliche und gesellschaftliche Vorgänge in der Welt verfolgen und nach Interesse vertiefen zu können. Deshalb muss die Allgemeinbildung allgemeiner (also breiter) und bildender (also nicht auf kurzfristige Prüfungstauglichkeit ausgerichtet) werden. Mehr ist mehr: Vielfalt. Weniger ist mehr: Unüberschaubare Detailfragen.

    Konkret: Grössere Vielfalt von Fächern, dafür stärkere Konzentration auf des Wesentliche in den einzelnen Fächern!

  3. Die Schüler müssen nicht alle gleich viel / gleich wenig können!

  4.  

     

    Es scheint vielleicht so, als widerspräche dieser zweite Punkt dem ersten auf ganzer Linie. Was nicht zutrifft. Die Entwicklung im Schulsystem sollte zweigleisig sein; Während das Wissen der Schüler breiter würde, ginge zwar konsequenterweise in manchen Fächern etwas Substanz verloren. Dies jedoch nur im Durchschnitt – die einzelnen Schüler sollten ihre Kenntnisse in bestimmten Fächern sehr wohl weiter vertiefen.

    Weshalb etwa soll jemand, dessen Herz für die Biologie schlägt (und der dafür Talent hat) genauso viel – d.h. genauso wenig – Biologieunterricht haben wie diejenigen, die sich dafür nicht speziell interessieren? Und weshalb muss dieser jemand umgekehrt gleich viel – und hier meine ich viel – über die Englische Literatur wissen wie ein anderer, dem viel mehr daran liegt?

    Nun schreien die Fachlehrer und andere Bedenkenträger wild auf; Sie sehen die Allgemeinbildung in Gefahr, ausserdem spezialisiere man sich ja dann an der Hochschule, und schliesslich habe man auch lange für das 6/3-System gekämpft, welches die Schüler möglichst lange beieinanderhielte.

    Zu der Allgemeinbildung habe ich mich unter Punkt eins geäussert. Zu den anderen Einwänden: Wenn man sich wie im heutigen System erst an der Universität seinem eigentlichen Interessegebiet zuwendet, dauert die Ausbildung schlicht zu lange. Während man mit 18 politisch und gesellschaftlich schon ein vollständiger Bürger ist, liegt das Ende der Ausbildung zu diesem Zeitpunkt noch in weiter Ferne. Mitunter muss man noch weitere 10 Jahre in der staubigen Studierstube verbringen, ehe man ins Erwerbsleben eintreten kann. (Geht man 120 Monate unkompetent zur Urne?)

    Natürlich wollen wir "abgerundete", vielseitige Menschen: Der Chemiker soll Heine lesen und der Literaturwissenschaftler soll die Diffusion des Zuckers in seiner Kaffeetasse verstehen können. Aber gerade deshalb ist es wichtig, sich öfters auf das Wesentliche zu konzentrieren. Beispiel: Jemand, der Probleme mit dem Französisch hat, wird an diesem Fach erst recht leiden, wenn er das "passé simple" lernen soll. Erspart man ihm dieses und einige weitere Schwierigkeiten, findet er vielleicht – wenn auch auf entsprechend tieferem Niveau – doch ein wenig Gefallen an dieser Sprache.

    Die dadurch freiwerdende Zeit müsste dazu genutzt werden, dass die Schüler dort, wo sie interessiert und fähig sind, schneller fortschreiten können. So hätte einer meiner ehemaligen Schulkollegen wohl schon einen neuen Raketenantrieb erfunden, wenn er im Physikunterricht nicht vom Rest der Klasse "zurückgehalten" worden wäre. Ich selbst lerne im Moment an der Universität mühsam Japanisch – hätte ich während meiner Gymnasialkarriere in all jenen Stunden, die ich aufgrund mangelnden Interesses oder mangelnden Könnens in einem Wachkoma-ähnlichen Zustand verbracht habe, Japanischunterricht gehabt, so könnte ich mich inzwischen fliessend darin unterhalten. (Für Grundkenntnisse in Arabisch hätte die Zeit wohl auch noch gereicht.)

    In einer Zeit, in der im Namen der Rationalisierung in vielen Firmen tausende von Menschen entlassen werden, wollen wir nicht auch noch die Schule dieser kalten, maschinenartigen "Verschlankung" unterwerfen. Aber es ist auch nicht nötig, dass sich in jeder Schule unzählige Lehrer heiser reden, nur damit jeder einmal alles zumindest gehört hat. So werden Potentiale plattgemacht und Abneigungen geweckt, die Schulabgänger können deshalb alle gleich viel – nämlich gleich wenig!

    Konkret: Mehr Möglichkeiten für die Schüler, sich ihre Fächer selbst auszuwählen – unter Beibehaltung eines obligatorischen "Grundgerüstes"!

  5. Die Mauer muss weg! (Die zwischen Schülern und Lehrern!)
Bestimmt hat sich das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern im Laufe der Zeit stark geändert. Der linealbewehrte, "alttestamentarische" Lehrer ist schon seit längerem ausgestorben. Doch noch immer haben die zwei Fronten Schüler & Lehrer nicht zueinander gefunden. Dabei wäre dies enorm wichtig und gewinnbringend.

Jeder Unterricht basiert logischweise auf der Kommunikation zwischen zwei Partnern. Und je besser diese Kommunikation läuft, um so fruchtbarer ist sie für beide Seiten. Ich hatte das Glück, im Laufe meiner Schulkarriere gleich vier Lehrer kennengelernt zu haben, die mein Interesse und in einem gewissen Sinne meine Bewunderung zu wecken vermochten. Ohne weiter darauf einzugehen kann ich feststellen, dass sie mich durch ihren Unterricht und durch Diskussionen neben dem Unterricht mehr geprägt haben und mir länger im Gedächnis bleiben werden als das meiste, was ich "offiziell" an der Schule gelernt habe.

Diese Lehrer waren unter anderem deshalb so wichtig für mich, weil ich mit ihnen "auf derselben Stufe" kommunizieren konnte. Denn genauso wie Wasser fliesst auch Information immer nur nach unten – und wenn ein Lehrer "über" den Schülern steht, wird er immer nur zu ihnen sprechen, nicht mit ihnen.

Eine Annäherung der zwei Seiten erfordert aber mehr von den Schülern als von den Lehrern. Die Lehrer nämlich sind oft mehr als bereit dazu, Kritik, Anregungen oder auch schlichte Plaudereien mit ihren Schülern auszutauschen. Viele warten sogar darauf, verteilen am Semesterende Zettelchen, auf denen Positives und Negatives vermerkt werden soll. Ganz anders die Schüler: In einer Mischung aus zu grossem Respekt ("der hört sowieso nicht auf mich!") und zu grosser Respektlosigkeit ("der kann mir mal den Buckel runterrutschen!") versuchen sie, dem Lehrer neben – und mitunter während – dem Unterricht so gut als möglich aus dem Wege zu gehen.

Dabei würde sich bestimmt zu jedem Schüler ein Lehrer finden, der auf "derselben Wellenlänge" liegt. Dieser sollte eine Vertrauensperson werden, die Kluft zwischen den zwei Fronten überbrücken. Meiner Meinung nach könnte nichts dem Schulbetrieb so sehr weiterhelfen wie die Einrichtung eines Systems von Mentoren, in dem jeder Schüler sich einen persönlichen Ansprechpartner aussucht. Diese Mentoren dürften ruhig ein stückweit als Vorbilder dienen – da sie einem ja ähnlich und doch in manchem noch überlegen sind. Andererseits könnte man sie auch kritisieren –weil man es eben dürfte.

(Man darf es natürlich schon heute, aber was nicht institutionalisiert wird, wird oft nicht wahrgenommen!)

Konkret: Mehr "Zusammenarbeit" zwischen Schüler und Lehrer, Kritik soll in beide Richtungen fliessen – aber auch Sympathie; Ein "Mentorensystem"!


© Moritz Gerber