Auf dem fünften Treppenabsatz musste er kurz stehenbleiben. Musste,
oder wollte es. Sein Atem klang schwer, heiser, rauh durch das stille Treppenhaus.
Er lehnte seine Hüfte gegen das Geländer, das er mit der Rechten
fest umklammert hielt, blickte schnaufend zu Boden. Beobachtete das langsame
Ruhigerwerden seines Herzschlags. Spürte seine Ohrläppchen warm
durchblutet.
Solche alten Treppenhäuser waren ihm unangenehm. Immer schon gewesen.
Kein Licht, keine Wärme, kein Garnichts. Er fasste mit der Rechten
das Geländer weiter oben, zog seinen Körper hoch und stieg wieder
weiter. Draussen dunkler Abend.
Unter den Sohlen das Knirschen der steinernen Stufen – immer schon
unangenehm gewesen, diese alten, steinernen Treppenhäuser! Dass Kurt
hier wohnte, schien ihm plötzlich ein beinahe persönlicher Angriff
auf sich selbst zu sein. Nur grobe und rücksichtslose Menschen wohnten
in solchen Häusern mit solchen steinernen Stufen. Dunkel war es, die
Wände waren schwarz und grau. Aber dunkel durfte es sein, dacht er,
heute meinetwegen dunkel. Im Dunkeln kann man sich besser anschleichen,
ging es ihm kurz durch den Kopf. Er schmunzelte den Gedanken grimmig weg.
Bübischer Galgenhumor konnte ihm jetzt auch nicht helfen.
Helfen wobei?, fragten ihn seine Gedanken. Wobei man Hilfe braucht,
das ist es nicht wert, getan zu werden, meinten sie. Eine der Wahrheiten,
die er sich irgendwann einmal zurechtgedacht hatte. Genauso willkürlich
wie alle anderen. Jetzt war alles anders. Jetzt konnte er sich endlich
eingestehen, dass es schon immer anders gewesen war.
Der sechste Treppenabsatz. Das Fenster eine schwarze, glänzende
Fläche, in der sich die Bewegungen seines dunklen Mantels undeutlich
und zerrissen spiegelten. Das Glas war uneben, und überall zuwenig
Licht. Von der Strasse war hier oben nichts zu sehen, ebensowenig ein Nachbarsgebäude;
vermutlich lag hinter den Fensterscheiben nichts als ein Ausschnitt sternenlosen
Nachthimmels. Er beugte sich vor und kniff die Augen zusammen.
„Kurt Kemf“ stand auf dem vergilbten Türschildchen der rechten
Tür. Hier war es. Er musste husten, das rasche Atmen hatte seinen
Hals aufgekratzt. Das Husten hallte leise im Treppenhaus hinter seinem
Rücken nach, oder so kam es ihm zumindest vor. Diese alten Steine
konnten einem nie das letzte Wort lassen!, so kam es ihm vor. Dann wieder
sechs Stockwerke Stille. Er lauschte.
Dass man nichts von der Strasse hört!, wunderte er sich. Keine
Autos, nichts. Es war gerade mal halb Acht. Kein Geräusch. Er wäre
froh gewesen um etwas mehr Welt in diesem Moment. Nun gut.
Der Klingelknopf war wie erwartet ganz altmodischer Art, ein runder,
hölzern gerahmter Holzbuckel, ein Relikt. Mit sowas konnte man vielleicht
Tote erwecken, aber ein lebendiger Mensch würde sich von so einer
abscheulichen Klingel nicht rufen lassen. Dachte er, und schüttelte
gleich darauf im Geiste den Kopf: Kinkerlitzchen, diese Scherze.
Er klingelte. Laut ertönte ein hässiges, elektrisches Brummen.
Beinahe hätte er sich jetzt den Mantel zurechtgestrichen, aber mitten
in der Bewegung hielt er inne – und steckte seine Hände tief in die
Manteltaschen. Noch war er einen Augenblick lang alleine, ohne Gegenüber,
ausser sich selbst. Nur wenn er alleine war, konnte er gut denken; weil
er dann nicht klar denken musste, weil er dann bloss die Dinge in seinen
Kopf fallen liess, und kein Durcheinander aus der Welt zu schaffen versuchte,
welches eigentlich in die Welt gehörte.
Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Die Tür ging auf, einen
engen Spalt weit. Kurt, sein Bruder. Ein müdes Gesicht aus Fleisch
und grauen Haaren, unrasiert. Ein dicker Wollpullover, ein zerknautschter
alter Hemdkragen. Jetzt waren sie zu zweit. Jetzt musste alles in Worte
gefasst werden, und deswegen alles so viel einfacher gemacht, als es eigentlich
war.
„Kaspar?“, fragte Kurt. Wieviele Jahre hatten sie sich nicht mehr gesehen?
Nicht mehr gesprochen?
„Hallo, Kurt.“ Noch war seine Stimme etwas heiser, sie brach.
„Kaspar...“, brummelte Kurt nochmal, machte grosse Augen.
Ein Hund, ein kleiner, schwarzfelliger, zerstrubbelter alter Köter
tauchte zwischen Kurts Beinen im Türspalt auf. Sein Halsband klimperte,
er knurrte den unbekannten Gast unentschlossen an, ganz leise. Wurde dann
still, trottete auf den Treppenabsatz hinaus und schnupperte an Kaspars
Schuhen.
„Du... Willst du – Du willst reinkommen?“, fragte Kurt endlich.
Anna ist gestorben!, dachte Kaspar. Meine Geliebte ist tot.
„Ja,“ sagte er.
Im Flur der Wohnung war es noch dunkler als im Treppenhaus. Während
sein Bruder den Hund zurückrief und die Tür abschloss, schaute
Kaspar sich um; verzog den Mund, mochte nicht, was er sah. Dunkelrote Tapete
an den Wänden, gerahmte, kleinformatige Zeichnungen, eine schwere
Kommode, darauf Bücher, Holzschachteln voller Kugelschreiber
und Bleistift-Stummeln, Fotos. Gleich neben der Tür stand ein leerer
Kleiderständer. Es roch nach altem Stoff und Orangenschalen.
„Gib mir deinen Mantel,“ hörte Kaspar plötzlich von hinten,
schrack aus Gedanken auf. Kurt hatte ihn schon an den Schultern gefasst.
Kaspar zog die Arme aus den Ärmeln, machte einen halben Schritt aus
dem Mantel hinaus.
Er schaute wortlos zu, wie Kurt den Mantel glättend schüttelte,
und auf einen der nakt ragenden Haken des Kleiderständers hob. Mit
Halsbandklimpern trottete der Hund an Kaspars Füssen vorbei den Flur
lang, zu einer offenstehenden Tür ganz hinten. Der einzigen Tür,
hinter der Licht brannte.
„In die Küche,“ sagte Kurt, winkte mit hängender Hand dem
davonwatschelnden Hund nach. Und drängte sich, als Kaspar nicht gleich
losging, an ihm vorbei, ging voraus.
Wiedersehen zwischen Brüdern, dachte Kaspar. Aber anders konnte
es nicht sein, anders hätte er es sich nicht vorstellen können.
Sie waren beide dieselben wie früher – bloss waren sie es jetzt noch
entschlossener, oder waren noch kraftloser, etwas dagegen zu tun. Kurt
blieb bei der Küchentür stehen, sah zurück in den Flur.
Ein alter Mann!, bemerkte Kaspar jetzt endlich. Dort, am Ende des Flurs,
steht ein alter Mann. Zeichnungen im Gesicht, Haare, die weiss geworden
sind, oder nicht mehr da. Aber die Bewegungen der Hände, der rasche
Gang, die Neigung des Kopfes... Es war noch immer Kurt, unverwechselbar,
dort stand sein grosser Bruder. Sein sechzehnjähriger Bruder Kurt,
der mit Schneebällen nach Katzen wirft, und immer trifft. Der am letzten
Tag der Sommerferien die rothaarige Erika geküsst hat, oder es zumindest
so gut schildern konnte, dass jeder es ihm glauben musste.
„Was ist? Kommst du?“, drängte der alte Mann am Ende des Flurs
jetzt unwirsch, und verschwand in der Küche. Einen Moment lang fiel
es Kaspar schwer, zu glauben, dass er damit gemeint war. Als er gerade
zwei Schritte in Richtung der offenen Tür gemacht hatte, kippte hinter
ihm der Kleiderständer um und polterte zu Boden; der schwere Mantel
hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht.
Kurts Stimme aus der Küche klang nicht böse, sondern beinahe
gelangweilt: „Was war das?“
„Der Kleiderständer!“
„Dann lass‘ ihn. Komm‘ jetzt, Kaffee wird kalt.“
Kaspar setzte sich zu seinem Bruder in die Küche. Hier und dort
zeichneten Risse feine Linien in den Putz der Wände. Auf der dicken,
hölzernen Tischplatte dampfte eine alte Kaffeekanne. Kurt schenkte
ein.
„Danke.“
Kurt nahm ein Schälchen mit Zuckerwürfeln, hob mit dem kleinen,
trüb gewordenen Silberbesteck einen Würfel hoch und führte
ihn zu Kaspars Tasse.
„Keinen Zucker, nein, danke.“
Kurt sah überrascht auf, noch zog er den Arm nicht zurück,
liess den Zucker über dem Tisch schweben. „Du nimmst keinen Zucker?“
Er hatte nie Zucker in den Kaffee getan, wusste Kaspar. Nie. Sein Bruder
musste es auch wissen – er erinnerte sich, wie sie als junge Prahlhanse
auf ihren Zugreisen immer wieder in Bahnhofsrestaurants gesessen waren,
ihr kleines Ritual, in Prag, in Oslo, in Neapel, Madrid, Amsterdam - und
Kaffee getrunken hatten. Kurt immer mit Zucker, Kaspar mit Milch. Immer
sorum. Ob sein Bruder ihn reizen wollte, jetzt noch? Jetzt, nach allem?
„Keinen Zucker, Kurt.“
Kurt sah Kaspar einen kurzen Moment lang unbewegt in die Augen. Vielleicht
hat er es tatsächlich vergessen, überlegte Kaspar, vielleicht
ist sein Gedächnis viel schlechter als meines, oder es funktioniert
ganz anders. Und wenn er sich daran nicht erinnert, woran erinnert er sich
dann? Und was habe ich dann alles vergessen?
„Aha... Dann kriegst du ihn, Tobi,“ sagte Kurt, beugte sich zu dem
Hund hinunter, der neben seinem Stuhl sass, und warf ihm den Zuckerwürfel
zu. Tobi?
Anna ist tot, dachte Kaspar; Wie kannst du deinen Hund füttern,
wenn Anna tot ist? Vor dir sitzt ein verlassener Mensch, dachte er. Ich
sitze in meines Bruders Küche, dachte er, und hatte keinen Grund,
hierher zu kommen; und habe keinen, wieder wegzugehen. Kräftig stieg
ihm der Geruch des Kaffees in die Nase, und er griff nach seiner Tasse.
„Aber Milch!“, rief Kurt plötzlich. „Milch nimmst du! Hast du
immer genommen.“
„Ich trinke ihn jetzt schwarz. Seit...“ - wie lange?, wusste Kaspar
nicht mehr - „... langem.“
Sie tranken beide ein paar Schlucke Kaffee, und, etwas verstohlen,
betrachteten einer den anderen. Geglichen hatten sie sich immer nur in
der Nase, breit, rund, weit aus dem Gesicht ragend. Die Nasen waren beiden
geblieben; alles andere sprach von Jahren und Jahrzehnten. Der Hund, der
Köter unter Kurts Stuhl, leckte sich minutenlang hingebungsvoll zwischen
den Beinen, das Schnalzen seiner Zunge war das einzige Geräusch in
der Küche.
„Wie geht es Anna?“, brach Kurt endlich das Schweigen.
In diesem Moment schnitt das krächzende, elektrische Brummen der
Türklingel ihnen beiden das Wort ab. Der Köter sprang auf seine
vier kurzen Beine und wuselte grummelnd in den Flur. Kaspar hatte gerade
auf Kurts Frage antworten wollen, endlich darauf antworten, und war nun
aus allen Gedankenbahnen gerissen.
„Ich...“, begann er, und wusste nicht weiter.
„Das ist... das muss Frau Imholz sein, du musst... einen Moment!“ Kurt
schob hastig seinen Stuhl zurück und verschwand ebenfalls im Flur.
Er öffnete die Wohnungstür, und leise und undeutlich konnte Kaspar
nun hören, wie sein Bruder im Treppenhaus mit jemandem sprach. Es
klang nach einer alten Frau.
Kaspar sah zum Fenster. Hell erleuchtet die Fensterfronten des gegenüberliegengen
Gebäudes. Dahinter waren sogar etwas Himmel und Mond zu sehen. Da
draussen hatte er einst gelebt.
Jetzt schien ihm die Welt einseitig, einbeining, einäugig geworden
zu sein. Alle Vergangenheit war von ihr abgefallen – in den Strassen, in
den Häusern, in den Worten und Gesichtern der Menschen war für
Kaspar nur noch Zukunft zu sehen. Zukunft, in der es keine Anna gab, Zukunft,
in der auch er nichts Altes verloren und nichts Neues zu finden hatte.
Das Alte hatten sie begraben, von Zukunft sah er sich umstellt.
Kurt trat in den Türrahmen zur Küche, und mit ihm ein – letztes
- Stück Vergangenheit. Halb im Scherz dachte Kaspar: Vergangenheit
kann man, wenn man sie schon nicht liebt, wenigstens hassen, oder sie fürchten.
Zukunft ist bloss Wind zwischen den Fingern – nein, weniger als das. Unter
Zukunft konnte er sich nichts anderes mehr vorstellen als die Wettervorhersage.
„Frau Imholz,“ erklärte Kurt, „Es sind zwei Schwestern, die wohnen
eine Etage unter mir. Beide fast Achtzig. Ich helfe der Jüngeren jeden
Abend, die Ältere ins Bett zu bringen...“
„Ich will dich bei nichts stören - freundlich von dir, den beiden
zu helfen.“
„Es dauert eine gute halbe Stunde. Ich koche ihnen Tee und sowas. ...
Du wartest?“
Er hatte keinen Grund gehabt, zu kommen; zumindest keinen, den er in
Worte fassen und erklären hätte können. Genausowenig hatte
er einen Grund, wieder zu gehen. Wahr blieb, trotz allem: sein Bruder war
sein Bruder. Irgend eine Bedeutung musste das haben, trotz allem.
Der Hund kam zwischen Kurts Beinen hindurch in die Küche, schnupperte
wieder an Kaspars Schuhen, als hätte er den Gast noch nicht genügend
überprüft, als wäre er aufs Neue misstrauisch geworden..
„Mit Tobi muss ich dann auch noch raus. ... Und wenn du kurz mit um
den Block gehst, während ich bei Imholz bin?“
Kaspar sah zu dem Köter hinunter. Ein hässliches Tier, das
Fell zerzaust, die Augen feucht und träge. Tobi, erinnerte er sich
jetzt, hatte einer von Kurts Schulkameraden geheissen, Tobi Gassner. Damals
Kurts bester Freund, ein wunderbarer Fussballspieler, ein frecher, aufgeweckter
Kerl, Tobi. Wie eifersüchtig Kaspar auf ihn gewesen war, auf diesen
nun längst vergessenen Tobi. Jetzt sass da ein alter, wackeliger Hund,
und hiess auch Tobi – aber vielleicht hatte Kurt sich gar nicht mehr an
jenen anderen Tobi erinnert, als er dem Hund diesen Namen gab.
„Hast du eine Leine?“
„Natürlich.“
Beim Hinuntergehen hatte Kaspar keinen Grund mehr, Zeit zu schinden.
Er nahm diesmal den Fahrstuhl. Eine in die Leere zwischen den Geländern
nachträglich eingebaute Konstruktion, die trotzdem noch älter
und verfallener aussah als das Treppenhaus drumherum.
Sechs Stockwerke lang war er mit dem merkwürdigen Hund alleine
in dem engen Stahlkasten. Metallene Geräusche tönten in die betretene
Stille. Kaspar lockerte den Griff, mit dem er die lederne Schlaufe der
Hundeleine gepackt hatte. Vierter Stock. Wann hatte er je einen Hund an
der Leine gehabt? Tobi jalute leise, oder winselte, oder hechelte - Kaspar
konnte das eine vom anderen nicht unterscheiden, und Tobi selbst vielleicht
auch nicht. Dritter Stock.
Beim Hochsteigen in den sechsten Stock war sein Kopf so voller Gedanken
gewesen, dass er in ihrer Menge keine Richtung, keinen Rang mehr gesehen
hatte. Jetzt, beim Hinunterfahren, eine Viertelstunde später nur,
war sein Denken wie geplündert und leergeräumt. Es gab plötzlich
nichts mehr, zu dem er in diesen Minuten irgend ein Gefühl empfunden
hätte, oder über das er hätte nachdenken können. Er
fuhr in einem Fahrstuhl, Hund an der Leine. Mehr gab es nicht.
Bis das Erdgeschoss erreicht war, und sich seufzend die matt glänzende
Tür zur Seite schob – und Kaspar ein unerwartetes Gefühl befiel;
Stolz. Befremdlich; ein wenig Stolz auf seinen Bruder. Kurt hilft also
zwei alten Damen beim Zubettgehen, dachte er, und macht ihnen Tee, jeden
Tag. Wie lange er das wohl schon tut?, fragte er sich. Jahre, vielleicht.
Weshalb hat Kurt nie geheiratet?, fragte er sich.
Er ging durch den Hausflur, an einer Wand voll Briefkästen vorbei,
fasste die bronzene Türfalle und zog die massive Eichenholztür
auf. Kühle Abendluft wehte ihm entgegen. Tobi wedelte mit seinem kurzen
Schwanz, hüpfte auf den Gehsteig hinaus. Kaspar überlegte, ob
Anna eigentlich Hunde gemocht hatte. Hatte sie sie gemocht? Wenn er es
nicht wüsste, wenn es ihm nicht mehr einfiele – kein anderer würde
es ihm dann sagen können, dann würde es nie mehr zu erfahren
sein.
Es war ein angenehmer Spaziergang. Der Hund wusste den Weg, zumindest
wusste er einen möglichen Weg, und Kaspar mischte sich nicht ein in
die Routenplanung. Wenn Tobi eine Wurzel, einen Pfosten, eine Ecke Wand
näher untersuchen wollte, blieb Kaspar geduldig stehen, und schaute
dem Tier zu, wie es schnuppernd irgendwo – oder eigentlich: überall
- irgendetwas zu suchen schien.
Es fuhren wenige Autos auf den Strassen dieser Gegend. Der Feierabendverkehr
war vorbei, und das Quartier lag im äusseren Ring der Stadt. Sie begegneten
kaum einem Menschen. Kaspar senkte beim Gehen den Blick auf den Hund vor
seinen Füssen, betrachtete das Tapsen der Hinterbeine, das Wacken
des Schwanzes, und versuchte sich dabei vorzustellen, dass in den Häusern
rundherum, in dieser Stadt, in diesem Land Tausende und Millionen von Menschen
existierten, und dass jederzeit einer von ihnen in sein Leben hineinspazieren
konnte, oder er in eines der ihren – auch wenn er sich noch so sehr zurückzuziehen
versuchte, selbst wenn er sich ganz und gar auf diesen winzigen Köter
am anderen Ende dieser Leine konzentrierte, war er doch noch Teil der Welt,
ihr ausgeliefert, ungeschützt.
Nur mit Anna, nur zu zweit hatte er richtig alleine sein können.
Jetzt, da Anna weg war, würde er nie mehr alleine sein, aber für
immer verlassen.
Endlich ging Tobi auf einem kleinen Grasflecken neben einem Drahtzaun
in die Hocke und erledigte sein wichtigstes Geschäft. Kaspar wandte
den Blick ab, obwohl es ihm etwas lächerlich vorkam, einem Hund gegenüber
diskret zu sein. Der Himmel war schwarz, keine Sterne zu sehen; dunkelgrau
die Häuser; die Strasse darunter von den Strassenlampen blass gelb
beleuchtet. Verschwommenes Grenzgebiet zwischen Abend und Nacht.
Als Kaspar weitergehen wollte, fuhr ihm eben ein junger Mann auf einem
Fahrrad entgegen. Er hielt zwei Schritte vor Kaspar, stützte sich
mit dem linken Bein ab und nickte streng in Richtung des Grasfleckens,
auf dem Tobi sich erleichtert hatte.
„Putzen sie das nicht weg?“
Kaspar verstand nicht sofort, wovon der junge Mann sprach. Er blickte
sich überrascht um, sah zum Drahtzaun, dem Garten dahinter, und zurück
nach vorne. Dann fiel es ihm ein: „Ach, sie meinen, wegen dem Hund?“
„Ja, allerdings, klar,“ maulte der junge Mann unzufrieden. Er musste
Ende Zwanzig sein, trug langes Haar und eine abgewetzte Wolljacke. Jemand,
der immer sagt, was er denkt – so würde er sich wohl gerne beschrieben
hören, dachte Kaspar.
„Es ist nicht mein Hund.“
„Scheissegal, wem der Hund gehört. Seien sie kein Egoist – es
ist ihre Scheisse, die da auf der Strasse liegt. Da hinten gibt’s einen
Eimer, mit Plastiksäckchen und allem.“
‚Seien Sie kein Egoist.‘ Ein Schmunzeln stieg in Kaspar hoch, doch
bevor es noch sein Gesicht erreichte, wurde es fortgewischt, überwogt
von einer plötzlichen Welle von Erinnerungen. Es waren keine eindeutigen,
konkreten Bilder, die beim Anblick dieses fordernden jungen Mannes jetzt
in Kaspars Gedächtnis aufleuchteten, es war ein schattenhaft umrissenes,
nur wie aus der Weite erspähtes Gefühl von Jugend, von erstem
Aufbruch, Unerfahrenheit und Mut. Er spürte, er ahnte ein Stück
Vergangenheit in sich wach werden. Es war so lange her – dass er auch so
jung gewesen war; geglaubt hatte, Freiheit könne man nur dadurch erkämpfen,
dass man sie auslebt; geglaubt hatte, man könne immer dazulernen,
und es gäbe da draussen mehr zu erfahren als das, was man immer schon
weiss; geglaubt, man müsse sich selber stets ein Rätsel sein,
und sei sonst nicht wirklich am Leben.
Wie ein Schnellzug durch einen kleinen Bahnhof schiesst und ohne anzuhalten
in der Nacht verschwindet, so verliessen diese Erinnerungen auch Kaspar
- schnell, und eigentlich nur halb gesehen. Was blieb, war eine winzige,
stille Heiterkeit, und Respekt vor dem jungen Mann auf dem Fahrrad.
Aber trotzdem, aber gerade deswegen: „Ich weiss, was sie meinen. Sie
haben Recht. Aber - ich würde eher in diesem Moment sofort schnurstracks
zur Hölle fahren, als jetzt mit einem Plastiksäckchen den Scheissdreck
von diesem mir unbekannten Hund aufzuheben. Sie können sagen, was
Sie wollen.“
Kaspar nickte dem Mann zum Abschied zu, und ging dann an seinem Fahrrad
vorbei auf dem Gehsteig weiter. Anna ist tot, dachte er. Meine Geliebte.
Für Jahre, für Jahrzehnte meine Geliebte. Was ich am meisten
fürchte, was mich am tiefsten erschreckt, dachte er: Dass sie mit
mir, dass sie bald mit dem letzten Erlöschen meiner Erinnerung an
sie ein zweites Mal sterben wird, ein endgültiges Mal. Durch mich.
Und ich – und niemand kann das Geringste dagegen tun.
„Toll – was heisst das jetzt? Es ist Ihre Scheisse!“, rief der junge
Mann Kaspar hinterher. Aber seine Stimme klang nicht mehr sehr überzeugt,
als wäre er von Kaspars Worten etwas verwirrt, oder als wüsste
er, dass Kaspar keinesfalls zurückkommen, ja, dass der alte Mann sich
nicht einmal mehr umwenden würde.
Und das tat er auch nicht.
Der junge Mann schaute noch einmal zurück, stieg wieder auf sein
Fahrrad, und fuhr weiter.
Ein paar Minuten später stiess Kaspar die schwere Eichenholztür auf. Und als Tobi jaulend oder winselnd oder hechelnd die erste steinerne Treppenstufe hinaufkletterte, war Kaspar noch sechs lange Stockwerke von seinem Bruder entfernt.
© Dezember 2001 Moritz Gerber