Wann braucht man neue Schuhe?
Früher, zu der Vorväter- und Mütter Zeiten war die Antwort einfach: nie. Damalige Schuhe waren ein Leben lang nicht totzukriegende Fussfestungen, und zu Zweitschuhen hätte es wohl auch finanziell selten gereicht. Heute ist das anders – in der Moderne müssen Schuhe gewechselt werden, mehrmals ‚lebendlich‘. Oder zumindest glauben wir das.
Bloss: wann?
Es ist Sommer geworden, und die Hälfte meines Gehirns votiert dafür, dies sei Grund genug, sich ein neues, kühleres Paar Schuhe zu besorgen. Unter verhaltenem Protest der anderen Hälfte gehe ich ins Geschäft. Ich habe noch nie mehr als ein Paar Schuhe gleichzeitig besessen. Ich fand die Mathematik ganz einfach: ein Paar Füsse, ein Paar Schuhe. Beruht nicht, ein altes Zitat in neuem Kleid, alles Unglück der Menschheit darauf, dass die Menschen mit einem Schuh pro Fuss nicht zufrieden sind?
Eigentlich sollte man sich von dieser Erkenntnis wieder aus dem Schuhgeschäft treiben lassen. Aber der Sommer wird eben doch heiss. Kneifen geht jetzt nicht mehr. Kaufe ich sie nicht heute, so muss ich sie doch morgen kaufen. Und wenn ich sie nicht morgen kaufen will, dann eben jetzt!
Es finden sich zwei Paare. Auf manche Art verschieden, aber doch einander ebenbürtig. Was der eine an Leichtigkeit dem anderen voraushat, gleicht dieser wieder durch die schönere Farbe aus. Hin und zurück geht mein Blick, sucht mit immer grösserer Unruhe nach einem Detail, an das sich klammernd eine Wahl getroffen werden könnte...
Ich sitze im Schuhgeschäft und muss mich entscheiden.
Obwohl noch immer ein beträchtlicher Teil meiner Seele gegen diesen Kauf per se opponiert, muss der grössere Rest davon eingestehen, dass beide Paare meinem Sinne gut entsprächen. Schlicht, leicht, preiswert. Mit einem von ihnen werde ich viele Stunden, Tage, Monate meines Lebens zubringen. Anhand eines dieser Paare würde man mich, sollte ich in näherer Zeit bei einem Brand ums Leben kommen, vielleicht identifizieren können. Auch dazu scheinen mir beide gleich gut oder gleich schlecht zu passen.
Wie entscheidet man sich zwischen zwei gleichwertigen Möglichkeiten? Wie soll man sich entscheiden, wenn man wieder und wieder alle Argumente durchdenkt und doch keinen Batzen findet, der die ausbalancierte Waage im Geringsten in die eine oder andere Richtung kippen könnte? Selbst beim Pres beträgt der Unterschied blosse 10 Rappen! Wär‘ ich doch Herakles am Scheideweg oder Hamlet am Dolch – ihre Fragen und ähnlich grosse lösen sich ja im Handumdrehen!
Aber diese Schuhe – und brauche ich überhaupt ein zweites Paar?
Natürlich ist das Hauptproblem an dieser Situation nicht die Schwierigkeit, sich (mich) zu entscheiden, sondern vielmehr, dass ich es überhaupt entstehen lasse. Wer wird sich denn in einer Welt der Not und des Unglücks den Kopf über einen Schuherwerb zerbrechen? Ich klagte über die Qual der Wahl, bis ich jemanden traf, der keine Füsse hatte, sozusagen. Scham gesellt sich zur Unentschlossenheit, und beide wiegeln sich hoch.
Ich sitze im Schuhgeschäft und denke, dass ich diesen Ort für den Rest meines Lebens nicht mehr werde verlassen können. Eine objektiv begründbare Entscheidung für das eine und somit gegen das andere Paar ist unmöglich. Und eine Münze werfen, das werde ich nicht tun – da geht’s ums Prinzip. Wenn ich die Münze schon meine Schuhkäufe erledigen liesse, weshalb dann nicht gleich auch meine Buchhaltung und die Familienplanung? Nein, meinungsschwacher als ein Stück Metall mag ich nicht sein!
Wird mich die Verkäuferin stirnrunzelnd ansehen, wenn ich erst nach so langer Zeit zur Kasse trete? Dabei ist sie es ja, die hier arbeitet, die uns zweibeinigen (2-beinig!) Menschen 4, 6, 8 und noch mehr Schuhe verkauft! Nun gut, ich mache bei der ganzen Sache mit und habe deshalb nichts anzuprangern. Hoffentlich wird sie mich nicht schräg ansehen...
Plötzlich fällt der Entschluss, spontan und unbegründet wohl, unergründlich. Ich trage das siegreiche Paar zur Kasse. Guckt sie schräg? Ich bemühe mich, jeden Gedankengang, der das Geschäft jetzt noch verhindern oder mich es bereuen machen könnte, zu unterdrücken.
Nach dem Bezahlen gehe ich zurück zum Gestell, wo noch mein altes Paar Schuhe steht. Ich packe es ein und bemerke, dass das neugekaufte Paar Grösse 46 ist - mir eine Nummer zu gross! Was ich ihm vorhin nicht anzusehen noch zu spüren vermochte, jetzt, da ich es weiss, scheint es ja schmerzhaft offensichtlich: meine Zehen grabschen im schuhleeren Raum, ich rutsche in den Schuhen hin- und her! Ein Gedankengebäude fällt zusammen, ein Entschluss verliert seine Stütze.
Zur Kasse, wo die Verkäuferin nun zweifellos komisch guckt. Nein, eine Nummer kleiner gibt’s nicht mehr. Und zum Wechseln mag ich sie nicht mehr belästigen... Es heisst, fortan auf grossem Schuh zu leben.
Ich verlasse das Geschäft, und kann ein wenig schmunzeln. Wie menschlich dieser Schuhkauf war: erst ewig lange nichts anpacken, aber wenn, dann eine Nummer zu gross!
Viele Weisheiten liegen eben doch auf der Strasse.
Sie sind nur manchmal zu platt, als dass man sie überhaupt sieht.
© Moritz Gerber