PHILOSOPHIE HEUTE
von Karl-Christoph Gerber
Titelseite:
Aus dem Leben eines Philosophen.
(den obigen Satz muss man sich unterstrichen vorstellen)
Seite 1:
Der Philosoph steht am Morgen auf, d.h. er steht dann auf, wenn er das Gefühl hat, dass es Morgen ist.
Der Philosoph fällt aber schon früh ein Urteil über die Welt und ihre Vorkommnisse: er bestimmt, was Morgen ist.
(er verhält sich unmittelbar reflektierend produktiv)
Der Philosoph liest Bücher
auf
Wenn er ein ordentlicher Philosoph ist, liegen seine Bücher nicht einfach so am Boden herum.
Der Philosoph liest auch Bücher (nichts).
einfach lesen.
Seite 2:
Schon beim Frühstück beginnt die Arbeit des Philosophen, nicht erst nachher. Beim Philosophen kann alles, was er tut, unmittelbar in Arbeit ausarten.
Nichts gibt es, was im Leben des Philosophen nicht zum Gegenstand der Philosophie, also seiner Arbeit, werden könnte.
Die Frühstücke des Philosophen sind nicht identisch mit seinen Frühwerken. Die frühen Stücke frisst er auf.
Der Philosoph weiss ebensowenig wie alle anderen
Leute, ob nicht eines Tages unversehens eines seiner Frühstücke
zu einem seiner Spätwerke wird. Er
muss deshalb mehr als die anderen darauf achten,
immer bei der Arbeit zu sein.
Der Philosoph philosophiert
Es gibt Philosophen, die philosophen.
Ich möchte die ersteren als Philosophen vom
Typus I bezeichnen, die anderen als von unbekanntem Typus.
Seite 3:
Wir hatten unsern Philosophen beim Frühstück betrachtet. Wir hatten deshalb nicht nötig, ihn im Verhältnis zu anderen Philosophen zu betrachten.
(vgl. Karl Marx, "Das Kapital" Bd I, S. 49-789)
Am Sonntag macht der Philosoph vier, fünf Spaziergänge; manchmal ein paar mehr, manchmal ein paar weniger.
Wenn fünf Philosophen zusammen einen Spaziergang machen, dann gibt das mehr Spaziergang als wenn 1 Philosoph fünf Spaziergänge macht.
ultimum totum malior plusquest quam partes
PERIKLEISCHE WEISH.
Schwieriger wird es, zu entscheiden, ob, wenn zwei Philosophen drei Spaziergänge machen, dabei mehr herauskommt als wenn sie zu Hause bleiben.
(3 Philosophen & 2 Spaziergänge)
Seite 4:
Nicht jeder Tag ist ein Sonntag und nicht jeder Abend ist ein Sonnabend.
Ebensowenig ist jeder Tag ein Montag.
(Aber jeder Tag des Philosophen ist ein Diensttag.)
Jeder Tag liegt zwischen seinem Anfang und seinem Ende. Zwischen dem Ende eines Tages und dem Anfang des nächsten Tages liegt nichts.
Also fällt das Ende eines Tages und der Anfang
des nächsten zusammen. Demzufolge liegt jeder Tag zwischen dem Ende
des letzten Tages und seinem
eigenen.
Da ein Tag nun nur zwischen Enden liegt, fällt es dem Philosophen schwer, zu entscheiden, wann ein Tag zu Ende sei.
1 Tag im Leben des Philosophen
DEN GANZEN TAG BEMÜHT ER SICH ZU ERKENNEN,
WARUM ER EIGENTLICH BEMÜHT IST ZU ERKENNEN, WARUM
Seite 5:
Ein Philosoph kann Müller heissen, oder Meier,
oder Meyer, oder Abderhalden, oder Bünzli, oder Bieri, oder Abgottspon,
oder Weber, oder Baumann, oder
Steffen, oder Rathenbühler, oder Geissbühler,
oder Wenger, oder Heimeran, oder Fischer, oder Karwendel, oder Traugott,
oder Haas, oder Schandte, oder
Hirsch, oder Bendl, oder Krause, oder Dietrich,
oder Vollmer u.a. ...
Es gibt auch Philosophen, die Adorno oder Spinoza heissen.
Namen wie Aristoteles u.ä. können auch vorkommen, heutzutage eher selten, da es sich bei solchen um frühere Namen handelt.
Wir haben gesehen, dass die Namen bei den Philosophen eher ein Teilproblem sind, und doch war es nicht umhin, kurz darauf zu sprechen zu kommen,
denn der Leser weiss immer gerne, mit wem er es zu tun hat und wer etwa insbesondere der Verfasser eines Buches ist, das er zufälligerweise gerade liest.
Aus diesem und nur aus diesem Grunde und keinem
anderen, hauptsächlich aber aus dem allereinzigen hiervor erwähnten
sind wir auch darauf zu sprechen
gekommen, wie es sich bei den Namen mit Philosophen
(und umgekehrt) unter Umständen verhalten kann.
Dies hat auch philosophische geschichtliche
Konsequenzen. [dies an anderer Stelle aufzugreifen; " wird sich im Verlauf
ergeben" (K. Marx, Grundrisse der
Kritik der polit. Oekonomie, Frankfurt: Wien,
S. 427)]
Seite 6:
Wenn den ganzen Tag die Sonne geschienen hat, war der Tag des Philosophen ein schöner Tag.
War es nicht ein schöner Tag, so heisst das nicht, dass die Sonne nicht geschienen haben könnte..
Er (der Philosoph) könnte ein schreckliches Erlebnis gehabt haben etwa aufregender oder ähnlicher Art.
1. Ein Philosoph steht an einem Abgrund.
schon dies bringt ihn an den Rand der Verzweiflung
Wie soll er wissen, dass es sich um einen Abgrund handelt und nicht um mehrere, etwa zwei?
Beispiel:
Abgrund Nr. 1
Abgrund Nr. 2
Beispiel Nr 2:
Sein?
Nichts?
2. Verzweifelnd an der Abgründigkeit dieses Gedankens, versucht er, ihn von sich zu weisen
(Der Gedanke zögert)
Seite 7:
Der Verzweiflung bleibt nur, sich ihm zu verschliessen...
3. Mit allen Kräften stemmt sich der Philosoph gegen das Unding von einem Gedanken:
4. Da, plötzlich hat der Gedanke nicht mehr die Kraft, sich selbst zu sein. Nach gibt er
5.
DER PHILOSOPH sieht sich ALLEIN
mit dem ABGRUND
Seite 8:
Er sieht in die Bodenlosigkeit des Abgrundes.
" Beim Sein und Nichts
dagegen ist der Unterschied in seiner *), und eben darum ist es keiner,
denn beide Bestimmungen
sind dieselbe **). "
(Hegel, Enzyklopädie der philos. Weish.. § 87, Zusatz, Zeile 50 & 50)
6. Dem Philosoph kommt ein rettender Gedanke:
' WENN ES SICH UM EINEN BODENLOSEN
ABGRUND HANDELT, DANN KANN ICH MICH
RUHIG FALLENLASSEN! '
7. Omnis determinantio est negativo
8.
9.
10.
11.
Merke: Kein Abgrund ist bodenlos.
" Ein Konkretes ist noch etwas ganz anderes als die abstrakte Bestimmung als solche "
(Hegel, Enzyklopädie § 88, Zusatz)
-------------------
*) Bodenlosigkeit
**) Bodenlosigkeit
Seite 9:
Tagebucheintrag v. 4. Juni 72
Heute war ein schöner Tag. Die Sonne hat geschienen und ich hörte jemanden sagen, man habe mit Regen zu rechnen.
Eine kleine Abkühlung am Abend wäre mir nicht ungelegen gekommen.
So ist das Leben.
Tagebucheintrag v. 5. Juni 72
(geschrieben am 4.)
Nichts besonderes. Nur etwas Allgemeines.
6. Juni
Die einzelnen Dinge im Leben und in der Welt muss man alle anschreiben (etwa eine Kant-büste oder eine Kreditanstalt).
Das ist aber nur im Kapitalismus so.
10. Juni
Manchmal finden die Philosophen es langweilig, zu philosophieren. Dann treiben sie sich ihre Langeweile mit Philosophie aus.
Wenn einer dagegen seiner Langeweile dadurch ihre Länge verdirbt, dass er den Vögeln in ihrem Flug nachschaut, ist er dann ein Philosoph?
Franz von Assisi z.B. war kein Philosoph. Er war
nur arm und hatte Hunger. Die Vögel fütterte er, weil er glaubte,
dass sie gross und fett würden
und er sie dann fressen könnte.
Dies ist ihm gründlich missraten.
Wir wollen - auf dem Stande angelangt, wo die heutige Philosophie steht - eine Lehre daraus ziehen und uns hüten, Vögel zu füttern.
Die Philosophie hat nämlich nicht ihre eigene Geschichte, sonst wäre es ein Leichtes, in ihr zurückzufallen etwa auf den Stant des Mittelalters.
Wer wollte
Seite 10:
dann schon dagegen sein?
So aber, angesichts der Tatsache, dass das Mittelalter
unserem Angesicht entschwunden ist, sehen wir uns genötigt, die entsprechenden
Konsequenzen aus
der Geschichte des Gedankens zu ziehen und derlei
Unbotmässigkeiten in dem siebenfachen Hegelschen Sinne aufzuheben:
aufheben, aufheben, aufheben, aufheben, aufheben, aufheben, aufheben.
Wir haben die Philosophie des Franz von Assisi
hinstorisch - materialistisch analysiert und den Zusammenhang des Gedankens
mit der Wirklichkeit
aufgedeckt.
Wir wollen dabei aber nicht verheimlichen, dass auch Franz von Assisi in gewisser Weise Hegel schon antizipiert hat
Franz sieht die armen Vögelein
Franz hat eine gute Idee: "Die Vögelein haben
Hunger, und ich habe auch Hunger!"
Seite 11:
Hier nun hat Franz, freilich ohne es zu wissen, den Hegelschen Gedanken:
er bückt sich zu den Vögeln nieder...
... und HEBT sie AUF
dass er sie dazumal nicht auch schon in dreifachem hegelschen Sinne aufheben konnte, daran hinderte ihn allerdings eine Naturschranke:
Sie wurden nicht gross und fett.
Seite 12:
Wir führen uns kurz vor Augen, welchen immensen Sprung die Philosophie schon damals getan hätte, wäre nicht eben jene Schranke gewesen.
1. Aufheben im Sinn von höher heben:
2. Aufheben im Sinn von Vernichten:
3. Aufheben im Sinn von Bewahren (aufbewahren)
Nun verstehen wir auch den Zusammenhang zwischen
der historischen Entwicklung der Produktivkräfte und -verhältnisse
und den Gedanken der
Philosophie: schon zur Zeit Hegels wäre
es vielleicht möglich gewesen, Vögel zu züchten und zu mästen,
dass sie gross und fett geworden wären.
Und erst recht heutzutage.
© Moritz Gerber