MEIN FAHRLEHRER GLAUBT AN AUSSERIRDISCHE

Mein Fahrlehrer glaubt an Ausserirdische.

Ich biege eben nach links in eine kleine Strasse ein, irgendwo in einem Aussenquartier der Stadt, als er mir das erzählt. An Ausserirdische. Er erklärt mir auch, weshalb; bei der unfassbar grossen Zahl von Sternen und Planeten in unserem Universum, erklärt er, sei es schon statistisch gesehen unwahrscheinlich, dass nur gerade hier auf der Erde Leben entstanden sei. Es müsse irgendwo noch andere Wesen geben; nicht nur irgendwo, sondern eigentlich überall.

Die Strasse führt in einer sanften Kurve einen Abhang hinunter – das Auto wird zu schnell, 55 kmh, ich nehme den Fuss vom Gas. 49 kmh. Aha, mein Fahrlehrer glaubt also an Ausserirdische. Darauf sollte ich jetzt etwas erwidern; zustimmen vielleicht.

Der Lehrer kommt mir zuvor und führt seinen Gedanken weiter: „Es ist ja schon verrückt, die Dimensionen, wir können uns das alles ja gar nicht vorstellen. Das sind ja Millionen Lichtjahre, schon zum nächsten Stern Hunderttausende von Lichtjahren, das sind unfassbare Grössen... Bei der nächsten Kreuzung dann bitte rechts.“
Ich schalte einen Gang runter, und fülle rasch die Stille, in der wir plötzlich wieder sitzen. „Ja, das stimmt schon. Es gibt ja in unserer Milchstrasse Milliarden Sonnen, und wenn es auch so viele Planeten gäbe, wäre es sicher möglich, dass auch an anderen Orten Lebensformen entstanden sind.“ Ein merkwürdiger Satz... - aber ich muss auf die Strasse mehr Acht geben als auf meine Konversation. Beim einen geht es um Leben und Tod, beim anderen um Ausserirdische. Prioritäten setzen. Rechts abbiegen, es geht bergauf, aufs Gas drücken.

Mein Fahrlehrer zündet sich die nächste Zigarette an. Er raucht beinahe ohne Unterbruch, der Rauch hockt ihm im Gesicht und in den Kleidern, seit Jahren, seit Jahrzehnten.

„So, so...“ brummelt er jetzt, und winkt mit der Hand in der Nähe des Gashebels herum. Einen Gang höher- oder tieferschalten bedeutet das, je nach Situation. Im Moment: tiefer. Wir kriechen viel zu langsam die Strasse hinauf. Ich schalte einen Gang tiefer, der Motor räuspert sich zufrieden, und wir gewinnen an Fahrt.
„Soweiso, wir Menschen nehmen uns viel zu wichtig. Wir sind ja nur kleine Ameisen auf einem winzigen Körnchen, irgendwo im Universum. Darum glaube ich auch an Gott, das ist für mich ganz klar, dass es etwas Grösseres geben muss als uns. Irgendwoher muss das alles ja kommen, das ist für mich ganz klar.“ Wieder schiebt er dem letzten Wort eine trockene Stille hinterher, die sich gleich heftig an mich klammert. Ich bin an der Reihe. Und überlege, was nun zu sagen sein könnte.
Fahrrad auf der linken Seite, die Strasse ist eng, ich verlangsame. Samstag Vormittag mitten in einem sonnigen Wohnquartier, Schweigen und Stille – hier und jetzt will ich wirklich niemanden überfahren. Die Welt ist selten so friedlich wie jetzt und hier; ein Verkehrsunfall wäre im Moment lächerlich fehl am Platz. Langsam wackelt das Fahrrad links am Auto vorbei. Mein Blick schiesst angestrengt vor und zurück, bis ich das Rad im Rückspiegel davonrollen sehe. Ich weiss, ich sollte etwas sagen. Die Themen: Ausserirdische und Gott. Die Gretchenfrage. Wie komme ich eigentlich dazu, mit meinem Fahrlehrer über Gott und Ausserirdische zu sprechen?

Endlich beende ich die Stille. „Hier vorne nach links?“

„Ja. Und da ist noch ein Rechtsvortritt. Da müssen Sie aufpassen, man sieht es schlecht.“

Ich passe auf, gucke aufmerksam nach rechts in die einmündende Strasse. Rechtsvortritt, aber es kommt keiner. Und Gas. Dann: ein Fussgängerstreifen, eine alte Frau mit windzerdrücktem Schopf trippelt forsch darauf zu. Bremsen, erster Gang, Handbremse. Die alte Frau schaut auf, sieht den stehengebliebenen Wagen. Und nimmt den Fussgängerstreifen in Angriff. Warten. „Interessieren Sie sich denn für Astronomie und solche Dinge?“ frage ich meinen Fahrlehrer.

„Ja, schon. Früher vor allem. Ich wollte immer Astronomie studieren, ich fand‘ das schon immer sehr faszinierend. Ich habe als Knabe oft die Sterne beobachtet, mit einem einfachen Teleskop, es ist schon sehr interessant.“

Ja, zweifellos. Die Sterne... Ja, die Sterne! Aber jetzt sitzen wir hier, immer und immer wieder in diesem Wagen, immer und immer wieder auf diesen Strassen, und Sie müssen mir das Fahren beibringen. Mir und tausend anderen. Samstag Morgen, der Asphaltbelag ist hell und grau, die Strassen und Wände leer und still; nur die alte Frau bewegt sich, tapfer und langsam weiter über die gelben Streifen am Boden.

Sie sind kein Astronom, Sie sind Fahrlehrer. Ob Sie glücklich sind? Sie glauben an Gott, das hilft. Ob ich glücklich bin? Ich weiss nicht einmal, ob ich an Gott glaube. Vielleicht glaube ich an Ausserirdische. Aber ob das hilft?

Die alte Frau hat die andere Fahrbahnhälfte erreicht. Mein Fahrlehrer zündet sich die nächste Zigarette an. Ich fahre weiter.

„Vorne bei der Hauptstrasse dann rechts, bis zur Ampel.“

Zurück in Richtung Zentrum. Ich habe das Gefühl, dass ich meinen Fahrlehrer aufmuntern müsse. Er ist kein Astronom geworden, sondern Fahrlehrer; eigentlich ist das tragisch. Ein Versuch: „Haben Sie denn jetzt immer noch ein Teleskop? Oder waren Sie auch einmal in einer richtigen, grossen Sternwarte?“

„Jaja, war ich auch schon. Das ist sehr beeindruckend. Aber heutzutage macht man natürlich alles mit Computern, man sieht nur noch auf die Bildschirme, das ist ja viel genauer.“ Die Stimme meines Fahrlehrers klingt immer gleich. Er fährt seit dreissig Jahren mit Schülern kreuz und quer durch die Stadt; seit dreissig Jahren saugt er denselben Zigarettenrauch ein und atmet dieselben Anekdoten und Fahranweisungen aus.

Mir fällt noch ein Gesprächsfetzen ein: „Diese Bilder von der Sonde, die auf dem Mars gelandet ist, die fand‘ ich sehr beeindruckend. Obwohl es ja eigentlich aussah wie in irgendeiner Wüste hier auf der Erde; aber zu wissen, dass das der Mars ist...“

„Jetzt können Sie dann ausnahmsweise in der linken Spur bleiben; ja, diese Bilder waren natürlich ganz beeindruckend. Die wollen ja in ein paar Jahren auch Menschen da hochschicken.“

Soviel zum Mars. Ja, ja, ja. Beide stopfen wir unsere Sätze voll mit diesen zuckerkrümeligen Wörtchen: „Ja“. Gegenseitige Zustimmung, schliesslich sitzen wir im selben Boot - im selben Auto.

Ich muss mich auf den Verkehr konzentrieren - die Ampel wird Grün, zweiter Gang, dritter Gang. Ich kann nicht konzentriert diskutieren, und er erwartet es auch nicht. Meistens lässt er bloss hin und wieder ein paar Sätze fällen, um die Stille zu unterteilen, wie ein Metronom. Ein Metronom mit Brille, Halbglatze und Zigarette im Mund.

Ob mein Fahrlehrer Kinder hat? Ob er gerne Musik hört? Ob er seine Frau liebt? Ob mein Fahrlehrer glücklich ist?

„Hoo, hoo...“ brummelt er jetzt, und hebt warnend die Hand. Langsamer fahren bedeutet das. Die Strasse steigt leicht an, und vor uns kommt ein Lieferwagen nicht recht in die Gänge.

Ich weiss nichts von meinem Fahrlehrer. Manchmal erzählt er von anderen Schülern, oder Anekdoten über Fahrprüfungen und die Polizei. Manchmal politisiert er in spärlichen Worten, probeweise und bruchhaft. Dazu schweige ich immer – er ist schliesslich mein Fahrlehrer.

„Im Kreisvortritt dann einfach geradeaus.“

Ich weiss, wir sind schon oft hier durchgefahren, zurück in die Stadt. Trotzdem nicke ich und wiederhole leise: „Geradeaus, ja.“ Merkwürdig - als wollte ich ihn damit bestärken. Als wollte ich ihm vormachen, dass ich jeder seiner Anweisungen bedürfe, dass ich respektvoll von seinem Wissen und seiner Erfahrung zehrte. Sie sind ein Fahrlehrer, was für eine verantwortungsvolle Aufgabe! Astronomen haben’s sicher auch nicht besser!

Ein junger Spund, noch feucht hinter den Ohren, der sich um die Psyche seines Fahrlehrers sorgt... Unverschämt eigentlich. Scham und Sorge tanzen in meinem Kopf.

In zwei Wochen habe ich die Prüfung. Danach werde ich den Fahrlehrer nie wiedersehen. Schon jetzt habe ich die Hälfte seiner Anekdoten vergessen. Man kann sich nicht alles merken, denke ich entschuldigend. Gleich sind wir beim Bahnhof, inzwischen kenne ich den Weg von hier zum Parkplatz auswendig. Bremsen, erster Gang, warten.

„Nach der Ampel dann wieder rechts, und dann gleich links dort einbiegen.“

Man kann sich überhaupt nichts merken, denke ich entschuldigend. Alles über meinen Fahrlehrer werde ich vergessen, vermutlich sogar seinen Namen. Rechts, links einbiegen, parkieren. War gar nicht schlecht heute? Gut, also bis nächste Woche. Danke, Wiedersehen!

Ich gehe über den weiten Parkplatz in Richtung Bahnhof, hinter mir schüttelt der Fahrlehrer schon die Hand seines nächsten Schülers. Was für ein heller, klarer Tag...
Merkwürdig der Gedanke, dass ich mich an nichts erinnern werde. Alles werde ich vergessen über meinen Fahrlehrer. Selbst seinen Namen. Oder doch nicht alles, merke ich plötzlich. Wenn ich in dreissig Jahren einst meinem Sohn das Autofahren beibringen und dabei an meine eigenen Fahrstunden zurückdenken werde, zumindest eine Sache wird mir dann wohl wieder einfallen. Unbedeutend zwar und gewiss nichts Besonderes, aber das einzige, das mir von ihm und von diesen Samstagvormittagen in stillen Aussenquartieren geblieben sein wird:

Mein Fahrlehrer glaubt an Ausserirdische.

© Februar 2001 Moritz Gerber