Aliam – Abschied
" Betrachte den Fluss und du siehst das Leben. Beständig strömt alles fort von dir – ständig strömt alles auf dich zu. Nichts ändert sich, und doch ist alles im Fluss.
Betrachte den Fluss und du siehst das Leben. Dinge, die gehen, weichen denen, die kommen. Der Tod ist der Vater des Lebens. "
Aus: "Lehren der Wasser-Kaste",
3. Kapitel
Zwei kleine, kreisrunde Monde warfen fahles Licht aus dem verästelten Blattwerk. Im Dunkeln waren die Apfelbäume in Kosteras Garten nur schattenhaft erkennbar. Die Eule drehte ihren Kopf ruckartig zur Seite. Ihre Augen weit aufgerissen durchkämmte sie mit ihrem Blick den schwarzen Grund.
Vamliz stand wenige Meter entfernt auf der kleinen Steinterrasse, beleuchtet vom schwachen Licht einer Kerze, die im Zimmer hinter ihm gegen einen leisen Luftzug anflackerte. Die Nacht war sehr dunkel, schwere Wolken hingen tief am Himmel und liessen die Mondsichel nur selten kurz hervorblinzeln.
Tief durchatmend hob Vamliz den Blick, versuchte, das Bergmassiv, das vor ihm weit in die Höhe ragte, mit Augen ganz fassen zu können. Zu dieser späten Stunde konnte man den Ifin-Berg nur als riesigen, über allem thronenden schwarzen Schemen erkennen. Unförmig, düster und bedrohlich. Ehrfurcht gebietend.
Ein plötzliches Rascheln schreckte Vamliz aus seinen Gedanken, er ging leicht in die Knie und liess seine rechte Hand blitzschnell auf den Griff des Schwerts fallen, das er an der Hüfte trug. Sanft wiegte der Ast auf und ab, auf dem eben noch die Eule gesessen war. Mein Feuer-Mentor wäre stolz auf mich... der grosse Krieger Vamliz!
Er drehte sich um und betrat das kleine, einstöckige Steinhaus. Einige im Zimmer verteilten Kerzen strahlten schwaches Dämmerlicht an die grau-gelben Wände. In der Ecke gegenüber des Durchgangs zum Garten war schattenhaft ein schlichtes Bett zu erkennen. Ein lautes Husten ertönte dorther – Kosteras war also aus dem Schlaf erwacht.
Leise flüsterte Vamliz den Namen seines Tutors, als er sich neben ihm auf das linke Knie sinken liess; "Tutor Kosteras!"
Es dauerte eine Weile, bis aus dem dunkelvioletten Gesicht zwei hellgraue Augen auftauchten. Der Blick, mit dem sie Vamliz bedachten, war so klar und wach, dass Vamliz für einen Moment beinahe vergass, dass sein Gegenüber ein dem Tode naher Greis war.
"Vamliz... gut, dass du es bist!" Des Mentors Stimme hatte erst in den letzten Monaten ihre Kraft zu verlieren begonnen. Nun jedoch war es kaum mehr als ein Hauchen, mit dem die Worte stossweise über seine Lippen kamen; "Wie ist die Nacht?"
"Es ist die dritte Stunde, und die Nacht ist dunkel, Tutor."
Eine dünne, weisse Linie erschien in den Schatten vor Vamliz, als sein Tutor den Mund zu einem schwachen Lächeln verzog. "Wirklich ein Glück, dass ich die Finsternis nicht scheue!"
"Tutor? Was meint ihr damit?"
Ein kurzes Kichern, ein längeres Husten, des Alten Schultern erzitterten sanft, bevor er antworten konnte; "Vamliz, du weisst, wovon ich spreche: für mich... bricht bald eine Nacht an, die noch viel dunkler ist als diese."
Als sich Vamliz nun mit einem heftigenRuck erhob, klang das kurze Rauschen seines Mantels beinahe wie das Fauchen eines Tieres. Laut und fast zornig protestierte er: "Was sagt ihr da, Tutor! Es gibt Elfen, die noch viel älter sind als ihr! Weshalb solltet gerade ihr schon sterben!"
Eine tiefe Stille wogte über die beiden hinweg. Lange Zeit antwortete Kosteras nicht, schaute nur ruhig atmend auf den Garten hinaus. Von dort war ein erschrecktes Quietschen zu hören – die Jagd war für die Eule erfolgreich gewesen..
Dann erhob der alte Mentor wieder die Stimme, sie war nun entschlossener, aber auch ruhiger als zuvor: "Vamliz, du warst immer ein sehr guter Schüler. Sei es auch jetzt. Ernoi mizude, vidoi Zaya!"
Ohne darum gebeten werden zu müssen, zitierte Vamliz flüsternd die Stelle aus den Lehren der Wasser-Kaste: "‚Betrachte den Fluss und du siehst das Leben. Dinge, die gehen, weichen denen, die kommen. Der Tod ist der Vater des Lebens.‘ Ich habe diese Stelle nie verstanden, Tutor..."
Milde lächelte Kosteras seinen jungen Schützling an. "Es macht mich stolz, dass du die Texte so gut kennst; aber sie zu verstehen ist viel wichtiger, Vamliz!
Auch der grösste Strom besteht nur aus winzige Wassertropfen. Und doch hat das Wasser die Kraft, solche Dinge –" - mit einer abweisenden Handbewegung zeigte Kosteras auf Vamliz Schwert – "- schnell verrosten zu lassen. Oder solchen –" – mit aufleuchtenden Augen blickte der Mentor zu den Bäumen im Garten – "- zu Wachstum und Gedeihen zu verhelfen!"
Mit der linken Hand schob Vamliz schnell sein Schwert am Gurt so weit wie möglich aus seines Tutors Gesichtsfeld. Er starrte auf seine Stiefel, als er stockend murmelte: "Tutor, es ist den meisten jungen Elfen gar nicht mehr erlaubt, ohne Waffe das Haus zu verlassen..."
Trauerig erwiderte Kosteras: "Ja, ich weiss, ich weiss es. Vielleicht ist es höchste Zeit für mich, zu gehen." Die Lider des alten Elfen schlossen sich langsam.
"Mentor!"
"Ich danke dir für deine nächtlichen Kontrollgänge, aber jetzt solltest du mich schlafen lassen, Vamliz. Sei beruhigt; ich verlasse dich ja nicht schon heute!"
Vamliz holte hastig Luft, um weiter auf seinen Tutoren einzureden, aber es gab nichts, was er noch sagen konnte. Ich verhalte mich wie ein dummes Kind! Dass Mentor Kosteras bald sterben würde, wusste ich ja schon seit langem! Weswegen wäre ich denn sonst jede Nacht hier vorbeigekommen. Dennoch...
Gerade wollte er sich zum Garten wenden, als Kosteras noch einmal die Augen öffnete und mit schwacher Stimme rief: "Vamliz! Morgen... musst du jemanden zu mir bringen. Du hast einen jungen Freund namens Yoozua, nicht wahr? Bring ihn zu mir... morgen!" Das letzte Wort hatte der alte Mentor nur noch gehaucht. Jetzt schien er schon wieder eingeschlafen zu sein.
Nachdenklich trat Vamliz wieder hinaus unter den düsteren, wolkenbehangenen Himmel. Yoozua? Mentor Kosteras hat ihn nie unterrichtet... Wie lange mag mein Tutor noch leben?
Als der junge Elf vorsichtig das Gartentor hinter sich abschloss, verzehrte die hungrige Eule auf einem der Apfelbäume gerade genüsslich die erhaschte Maus.
*
"Tretet vor, Fürst Zuunaru d‘Huuva!" Laut hallte die Aufforderung durch die Halle des Rates. Die unzähligen geflüsterten Gespräche verstummten sogleich, als würden sie von den Worten des Ratsvorsitzenden ausgeblasen wie schwach brennende Kerzen. Augenblicke später schon hatten alle Mentoren sich auf ihren Platz gesetzt, wenn sich jetzt noch jemand bewegte, dann nur um sein Gewand zu ordnen.
Ein riesenhafter Errs-Baum bildete die südliche Front der Ratshalle. Er wuchs direkt an der steil aufragenden Felswand in die Höhe und hatte im Laufe der Jahrhunderte seine Wurzeln und Stämme in unzählige kleine Spalten und Ritzen dringen lassen, so dass nun kaum mehr zu erkennen war, wo das schroffe Gestein endete und in knorriges, uraltes Holz überging.
Im Norden bog sich eine hohe Mauer aus schwarzem Basalt von der einen Bergwand zur anderen, so dass die ganze Ratshalle einen grossen Kreis beschrieb. Zuunaru d‘Huuva stand inmitten dieses Kreises auf einem kleinen, marmorhellen Podium.
Die silbernen Strähnen in seinem Bart und dem langen Haarschweif verliehen seinem schmalen Gesicht eine tiefe Würde; als er nun seinen Blick langsam über den Halbkreis der Mentoren schweifen liess, schien er sich nicht als Bittsteller zu fühlen. In seinen Augen war vielmehr die Gewissheit zu lesen, dass bald er derjenige sein würde, dessen Hilfe andere dringend benötigen. Sanft bewegte sich der Saum seines schwarzen Umhangs im schwachen Luftzug, der durch die Stille des Rates strich.
Es war schon das erste unruhige Räuspern aus den hinteren Reihen der Feuer-Mentoren hörbar, als der Fürst endlich zu sprechen begann. Seine kraftvolle Stimme erfüllte das Rund der Ratshalle und tönte bis zum hohen Blätterdach des Err-Riesen: "Mentoren, hört mich an! Ich bin in den letzten Jahren viele Male vor euch getreten und habe euch von den Ereignissen im tiefen Land berichtet.
Eure Weisheit war es, die unserem Volk erlaubt hat, sich auf die heraufziehende Bedrohung durch die Barbarenvölker vorzubereiten – dafür danke ich dem Rat!"
Das dichte Blattwerk des Errs-Baumes bildete die einzige Überdachung der Halle, so dass bei Tage das ganze Rund in hellgrünes Licht getaucht war. Jetzt, tief in der Nacht, war die einzige Lichtquelle eine prächtige, grossblättrige Baral-Blüte, die von einem tief herunterhängenden Ast einen vielfarbigen Schein auf das Rednerpodest warf.
Der weite Halbkreis der Mentoren war im Schatten des Wurzelwuchses verborgen und Zuunaru konnte nur schwach die Gesichter einiger Mentoren in der vordersten Reihe erkennen. Viele blickten ihn grimmig und mit unverholenem Misstrauen an. Zuunaru wusste, dass manche Erd-Mentoren ihn richtiggehend verachteten. Er wandte sich mit einem beiläufigen Zurückschlagen des Umhanges dem Trakt der Feuer-Mentoren zu. Dort sass sein wahres Publikum.
"Ja, unser Volk befindet sich wieder auf dem rechten Weg. Es macht mich stolz, junge Elfen und Elfinnen mit dem Schwert an ihrer Seite durch Omoy schreiten zu sehen! Mit Freude vernehme ich, dass viele Familien sich wieder von echtem, erjagten Fleisch ernähren!
Aber haben wir schon genug getan? Während die Stämme der Menschen jährlich wilder und tollkühner werden, sich immer näher an unsere Städte heranwagen, haben wir uns gut gerüstet? Mentoren, ich habe euch schon viele beunruhigende Beobachtungen aus dem tiefen Land berichten müssen – waren unsere Reaktionen darauf angemessen?"
Kaum hörbar drang zischendes Flüstern aus den Reihen der Wasser-Kaste. Zuunaru stockte. Die Wasser-Kaste! Können oder wollen sie nicht erkennen, welche Gefahren unserem Volk drohen?
Er sprach weiter, wobei er das erste Wort wie einen Pfeil in die Ratshalle hinausschiessen liess: "Nein, das haben wir nicht! Die Welt ist eine andere geworden seit wir uns aus ihr zurückgezogen haben! Die Kundschafter, die ich seit vielen Jahren regelmässig in das tiefe Land schicke..." Einen Atemzug lang hielt Zuunaru inne; obwohl er den Kopf nicht umwandte, wusste er, dass ihn bei diesen Worten einer der Mentoren aus dem Trakt der Luft-Kaste besonders intensiv ansah. Er konnte Lehyoz Blick beinahe spüren, fühlte des alten Mentoren dunkle Augen seine Schädeldecke durchbohren...
Wir beide haben eigentlich dasselbe Ziel. Und du kennst die Abmachung, alter Elf. Du kriegst meinen Sohn und ich meinen Krieg...
"... diese Kundschafter haben eine neue Gefahr ausgemacht, die unser Volk noch viel stärker bedroht als wir bisher vermutet hatten! Unter den Barbaren verbreitet sich in Brandeseile eine Bewegung, die unter dem Namen "Bund des Urteils" bekannt ist.
Welches die Ziele dieser Gemeinschaft sind, die schon in alle Stämme der Menschen vorgedrungen zu sein scheint, bleibt noch vor uns verborgen, doch - ich habe weitere Kundschafter ausgesandt, um dies zu erfahren. Schon jetzt aber drängt die Zeit, wir müssen uns weiter rüsten für den Tag, an dem das Schicksal über uns hereinstürzt! Wir Elfen dürfen nicht untergehen!"
Ein paar Meter hinter Zuunaru sass der Ratsherr auf dem ihm angestammten Platz, einer schalenförmig aus dem Boden ragenden Wurzel, die von Luft-Mentoren schon vor langer Zeit zu einem zierlichen Sessel gewirkt hatten. Als der Ratsherr nun bemerkte, dass der Redner zu einem Ende gekommen war, erhob er sich und gesellte sich mit winzigen Schritten neben Zuunaru in den Lichthof um das Podium.
Der Ratsherr war bei weitem nicht der Älteste der anwesenden Elfen, aber doch war er alt genug, dass er nur mit Mühe seine etwas dünne Stimme zu ähnlichen Höhen aufschwingen konnte wie der Fürst. "Ratsmitglieder, ihr habt den Redner gehört! Seine Forderungen sind euch bekannt. Wenn jemand etwas zu der Sache zu sagen hat, ist jetzt die Zeit dazu!"
Sofort schien die Ratshalle zu explodieren; lautes Stimmengewirr schallte aus allen vier Trakten des Wurzelrundes, viele der Mentoren erhoben sich und streckten ihre Arme wild fuchtelnd in die Höhe, andere begannen, hitzig untereinander zu diskutieren. Zuunaru fühlte sich beim Anblick des Schattens, unter dem die Ratsmitglieder nun stritten, an brodelndes Wasser erinnert.
Nur wenige der Mentoren blieben ruhig sitzen. Einer von ihnen war der greise Lehyoz d’Antuv. Die Kapuze seines Mantels tief ins Gesicht gezogen, die Schultern kraftlos nach vorne sinken lassend. Er schloss langsam die Augen. Atmete konzentriert ein und aus und versuchte, an nichts zu denken als an seinen jungen Zögling. Yoozua... was wenn dein Vater sich täuscht?
*
Noch vor Anbruch des Tages waren dichte Wolkenballungen vom hohen Wind auseinandergerissen worden und zerflossen. Das nächtliche Dunkelviolett war gegen Morgen licht geworden. Als die ersten Sonnenstrahlen sich über das Land getastet hatten, war sanftes Rosa über den Himmel gesickert, und jetzt, kurz vor Mittag, spannte sich prächtiges Hellblau in weitem Rund vom einen Ende des Horizontes zum anderen.
Manchmal trieb ein kleiner, strahlend weisser Wolkenbausch unendlich weit über Omoy hinweg, einsam wie ein verlorenes Lamm auf der Suche nach seinen Herde. Aber meist war die Sonne uneingeschränkter Herrscher über das ganze Firmament, und von den Strassen und Gärten Omoys tönte ihr frohes Vogelzwitschern wie zum Dank entgegen.
Fröhliches Rufen und Lachen drang schon von weitem an Vamliz‚ Ohr, als er durch die Hallen der Mentoren auf die grosse Wiese zuging. Und noch bevor er nahe genug war, um die Worte verstehen zu können, konnte er sehen, was die Aufregung verursachte.
Zwischen den vielen Hallen der Mentoren und dem Bergmassiv lag ein riesiger Park. Er wurde vor allem von den Feuer-Mentoren benutzt, die dort Wettkämpfe und Übungen verschiedenster Art abhielten. Neben Vamliz war an diesem Tag allerdings niemand auf der Wiese zu sehen; Alle Schüler tummelten sich in einer bunten, hin- und herwogenden Masse, die sich an die Bergwand auf der gegenüberliegenden Seite drängte.
Weit darüber erkannte Vamliz zwei kleine Gestalten, die in den schroffen Spalten des Felsmassivs hingen. Und etliche Meter über diesen beiden flatterte eine rote Fahne im warmen Sommerwind. Die Bergwand stiess beinahe senkrecht nach oben, an manchen Stellen war sie sogar überhängend.
Inmitten dieses strahlenden Tages hing Vamliz mit seinem Gedanken noch immer in der düsteren Kammer seines sterbenden Tutors. Und doch weckte das, was er nun sah, sein Interesse. Ein Kletterwettbewerb! Wie lange habe ich so etwas nicht mehr gesehen? Vor vier Jahren schon habe ich die Unterrichtshallen verlassen...
Beinahe vergass er seine Sorgen, runzelte nur deshalb unzufrieden die Stirn, weil das Schwert an seiner Seite beim Laufen heftig gegen seinen Schenkel schlug und laut schepperte, wenn er zu schnell lief. Dann gehe ich eben langsam!
Beim Näherkommen bemerkte er, dass einer der beiden Kletterer in Schwierigkeiten sein musste. Während nämlich der Geschicktere schon fast die Fahne erreicht hatte, presste sich der Zurückgebliebene mindestens zehn Meter unter seinem Gegner reglos in den Stein.
Als Vamliz nur noch wenige Schritte von der anfeuernden Zuschauermenge entfernt war, sah er, dass der Unterlegene, dessen nackter, breiter Rücken ihn als einen tüchtigen Feuer-Schüler auswies, seinen linken Stiefel in einer kleinen Felsritze eingeklemmt zu haben schien.
Vamliz schaute weiter nach oben. Den zweiten Elf konnte er ihn nicht gleich einer Kaste zuordnen... Doch: mit seinem hellblauen Gewand musste es ein Luft-Schüler sein, auch wenn er dafür ungewöhnlich kräftig gebaut war.
Vamliz erschrack; Was? Das ist ja... Ich hätte wissen müssen, dass du es bist! Gut so, noch drei, vier Griffe, dann Hand an die Fahne und...
Aber der flinke Kletterer stockte plötzlich und sah nach unten. Als er erkannte, dass sein Gegner weder vor- noch zurückklettern konnte, warf er einen letzten, sehnsüchtigen Blick zur Fahne und begann dann vorsichtig wieder hinabzusteigen.
Das Rufen der Menge um Vamliz wurde nun noch lauter; während manche der Schüler den Umkehrer lobten, waren viele enttäuschte Stimmen zu hören, die ihn zum Weiterkämpfen aufforderten: "Los, rauf! Was machst du? Hast du Angst? Berühr‚ die Fahne!"
Ein paar der jungen Schüler wandten den Blick ab oder nahmen die Hände vors Gesicht. Da drehte sich ein hünenhafter, breitschultriger Kerl Vamliz zu und brummte höhnisch: "Den nennen sie den ‚Elfensohn’? Dieses Hasenherz möchte ich einmal in der Feuer-Arena sehen!"
Die einzige Antwort, die er darauf bekam, war ein mitleidiges Schmunzeln, und so trottete er enttäuscht weiter.
Vamliz aber wandte sich wieder der Bergwand zu. Inzwischen war der Luft-Schüler fast bis zu seinem sich verzweifelt in die Wand festkrallenden Gegner gelangt. Die beiden begannen nun, miteinander zu sprechen. Der Feuer-Schüler zeigte mit einer zitternden Hand auf seinen linken Stiefel und sein Kontrahent nickte kurz.
Wie eine Welle fuhr ein erleichtertes Aufatmen durch die Reihen der Zuschauer. Die meisten verstummten dann und schauten angespannt nach oben. "Das ist der Elfensohn!" flüsterte ein kleiner Elfenjunge ehrfürchtig.
Der Kletterer im blauen Gewand befand sich nun unter seinem Gegner und arbeitete sich langsam zu dessen Fuss vor. Manchmal musste er lange innehalten und nach einem geeigneten Halt suchen – die besten Ausbuchtungen in diesem Teil der Wand waren von seinem hilflosen Gegner besetzt.
Schliesslich hatte er den eingeklemmten Stiefel erreicht und begann, mit seiner rechten Hand daran zu ziehen. Gerade als Vamliz seine angespannten Schultern ein wenig sinken lassen wollte, stiess der eben noch so hilflose Feuer-Kasten-Kletterer plötzlich seinen Fuss mit einem heftigen Ruck nach hinten. Sein Retter wurde davon so überrascht, dass er das Gleichgewicht verlor und mit einem, dann beiden Füssen vom Fels abrutschte – er hing nun urplötzlich nur noch an seiner linken Hand!
Schnell stieg sein Gegner jetzt weiter, und es gab nun keinen Zweifel mehr, dass er seinen Stiefel nie eingeklemmt hatte; das Ganze war ein Trick!
Vamliz verspürte nun zum ersten Mal seit er die Wiese betreten hatte wirkliche Sorge. Seine ursprüngliche Begeisterung für den Wettbewerb wurde rasend schnell von einer brennenden Angst verschluckt, sein Kehle schnürte sich zusammen und liess ihn die Luft anhalten. Er begann, sich mit beiden Armen einen Weg durch die Zuschauermasse zu schaufeln, zur Bergwand hin.
Seine Gedanken konzentrierten sich intensiv auf einen Punkt: den viele Meter über ihm von der grauen Wand hängenden Luft-Schüler. Er achtete auch nicht darauf, dass der breitschultrige Hühne ihm im Vorbeieilen kalt grinsend ins Ohr flüsterte: "Sieht schlecht aus für den ‚Elfensohn’... kann er denn auch fliegen?"
Komm schon! Ich kann euch nicht beide verlieren!
Quälend langsam hob der Luft-Schüler seine rechte Hand, liess sie dann vorsichtig über den Stein gleiten, verzweifelt nach Halt suchend. Als Vamliz kurz den Blick von der Wand abwandte ging plötzlich ein erschrecktes Raunen durch die Menge – Nein! Bitte nicht! Du... Aber der untere Kletterer hatte sich jetzt fest in den Berg gekrallt, es war sein Gegner, der nun nur noch an einer Hand über dem tiefen Fall pendelte - diesmal konnte es sich unmöglich um einen Trick halten.
Faustgrosse Steinbrocken rasselten wenige handbreit neben dem Kletterer unter ihm in die Tiefe. Das polternde Krachen hallte zu den Hallen der Mentoren und zurück. Dann noch lauter: ein gellender, panischer Schrei - der Feuer-Schüler verlor den Halt und stürzte rasend schnell dem Boden entgegen!
Vamliz’ Herz schien ein paar Schläge lang seine Brust aufsprengen zu wollen. Er sah, wie der Fallende an seinem blaugewandeten Gegner vorbeischoss, zappelnd, weiter, noch zwanzig Meter über der Wiese, noch zehn... gleich würde ein dumpfer, klatschender Schlag bis in Vamliz’ Rückenmark schallen und ihm sein Leben lang unvergessen bleiben: ein aufplatzender Elfenkörper...
Jeden Augenblick, sofort, jetzt! Er presste die Augen so fest zu, dass sich sein Gesicht zu einer Fratze verzog. Aber der Schlag blieb aus. Vamliz hörte nur ein überraschtes, gleichzeitig aus hundert Kehlen gehauchtes Murmeln; er hob erst das linke Lid vorsichtig an, dann öffnete er beide Augen. Und sah, dass der Feuer-Schüler, der eben noch dem sicheren Tod entgegengestürzt war, ungläubig um sich schauend etwa zwei Meter über dem Boden schwebte!
"Schaut! Der Elfensohn!"
Der zweite Kletterer hielt sich noch immer weit über den Köpfen der Menge mit einer Hand am Felsen fest, den rechten Arm aber hatte er genau auf seinen verdutzten Gegner gerichtet. Sein ganzer Körper zitterte vor Anstrengung. Vamliz sah einen hellen Umriss in seinem Gesicht und wusste, dass es hart zusammengebissene Zähne waren, die hinter den zurückgezogenen Lippen hervorschauten.
Schnell liefen ein paar starke Schüler zu dem schwebenden Kletterer hin und liessen ihn auf ihren Armen langsam zu Boden sinken. Dort blieb er verwirrt in den blauen Himmel starrend liegen, manchmal zuckte sein Kopf ein wenig zur Seite.
Sein blaugewandeter Gegner legte die rechte Hand wieder auf den Stein und richtete den Kopf nach oben. Ohne länger zu zögern setzte er sich in Bewegung: er kletterte weiter! Du verrückter Kerl! Ein tüchtiges Bakuy würde dir den Kopf wieder zurechtrücken! Komm endlich runter!
Aber Vamliz musste nicht lange warten. Schon kurze Zeit später setzte der siegreiche Kletterer den ersten Fuss wieder auf sicheren Boden. In seinen Händen hielt er die kleine rote Fahne. Sofort war er umringt von unzähligen jubelnden und schreienden Schülern; "Elfensohn, wo hast du... Das war unglaublich... Klettere doch einmal gegen mich!"
Der Umjubelte jedoch ging hastigen Schrittes an der aufgeregten Menge vorbei ohne sie weiter zu beachten. Er trat neben seinen noch immer am Boden liegenden Gegner. Dann liess er sich nieder auf sein rechtes Knie – und bohrte seine geballte Faust mit einer schnellen Bewegung in den Magen des überrascht zusammenzuckenden Feuer-Schülers. Vamliz, der auf die beiden zuging, sah, wie der Geschlagene sich krümmte und Blut aus seinem halbgeöffneten Mund spuckte.
Langsam wandte sich der Blaugewandete um, liess dabei die Fahne verächtlich neben seine Füsse fallen. Als er sich ganz Vamliz zugewandt hatte, strahlte die Sonne hell auf sein Gesicht, in dem nun ein kleines Lächeln zu erkennen war.
Yoozua d‘Huuva, der Elfensohn, war wieder einmal der Sieger geblieben.
*
" Und der Dreizehnte blieb nicht lange allein. Denn wer von ihm erfahren hatte, wollte ihn hören. Wer ihn aber gehört hatte, wollte ihn sehen. Und wer ihn gesehen hatte, wollte nichts mehr als ihm folgen. "
Aus: "Die Annalen" von Zal'Ust
Dritter Band
Gemächlich trottend zog die grosse Herde am Ufer entlang flussabwärts. Aus der Ferne war nicht mehr zu erkennen als eine Menge unförmiger, schwarzer Buckel, die schwerfällig über den schlammigen Boden krochen. In Wirklichkeit aber kletterten die riesigen Mosons trotz ihres Gewichtes und ihrer meterlangen, verfilzten Haarsträhnen geschickt über halbverborgene Stämme und Steine.
Manchmal dröhnte ein tiefes, ohrenbetäubendes Röhren durch das regenfeuchte Tal; zwei Bullen gerieten aneinander. Dann kurz hintereinander helles Schlagen, wenn sie mit den meterlangen Hörner aufeinanderprallten.
"Oi! Oi! Oi! Merubelei och Horbind! Merubelei!" Immer wieder riefen die berittenen Herdenführer diese antreibenden Worte, wenn ein paar der Mosons zu lange beim Wasser verweilten, um sich laut die Mägen vollzuschlucken. Die Sonne war schon nahe am Horizont, die untere Hälfte des Himmels schon in blutroter Glut, ein milder Abendwind strich den Aufpassern um die Mützen. Sie mussten sich beeilen, um nicht von der Nacht im Tal gefangen zu werden.
"Oi! Merubelei!"
Wolkenlos, der Himmel ein schwarzes, bodenloses Meer, auf dessen Wellenbergen kleine Lichtsterne blinkten. Der Mond nur eine hauchdünn gezogene Linie. Grenzenlose Dunkelheit, die bis zum Boden reichte. Dort irgendwo ein kleines, knisterndes Feuer, um das die Mücken tanzten.
Ein trauriges Lied, falsch und zugleich schön gesungen. Die Herdenführer im fröhlichen Kreis, fanden endlich ein wenig Ruhe.
Plötzlich Schritte, die auf dem sandigen Boden trocken knirschten. Einige der Herdenführer standen ruckartig auf, griffen zu ihren Holzstöcken: "Hora! Esdin buera? Oi!"
Dann betrat eine Gestalt das Rund des Feuerscheines. Gross, in einen weiten, violetten Umhang gehüllt. Sie ging ohne sich vorzustellen behende in die Hocke, und fragte dann die überraschten, stumm glotzenden Aufpasser, ob sie schon einmal vom "Bund des Urteils" gehört hätten.
Nein, hatten sie nicht.
"Orieide mar uchorim – ich werde euch davon erzählen..."
*
Ein heiseres Quietschen ertönte, als Vamliz das hüfthohe Holztürchen zu Kosteras Garten aufschob. Die beiden jungen Elfen schritten über das weiche Gras zu der steinernen Hütte. Der Vorhang im Eingang flatterte im leichten Wind, sonst war alles ganz still. So still, dass Vamliz erschrak und mit zwei, drei Sätzen in seines Tutors Zimmer sprang.
Yoozua blieb draussen stehen und schaute sich aufmerksam um. Die helle Nachmittagssonne machte ihn blinzeln, als er die Nase in die Luft streckte und tief einatmete; sein Brustkorb weitete sich, das hellblaue Hemd war zum Zerreissen gespannt. Was will der alte Mentor bloss von mir? Er hat mich nie unterrichtet...
Noch bevor der Luft-Schüler wieder ganz ausgeatmet hatte, trat Vamliz langsam unter dem Vorhang aus der Hütte. In seiner Hand hielt er ein kleines Papier. Verwirrt sprach er mehr zu sich selbst als zu seinem Freund: "Mentor Kosteras ist nicht mehr hier: er... wartet auf uns... beim Zierlyn-Pfad?"
Überrascht hob Yoozua die Brauen; "Du sagtest, dein Tutor sei sehr krank – kurz vor dem Tode gar. Der Zierlyn-Pfad liegt aber einen halben Tagesmarsch von Omoy! Weshalb geht er dorthin?"
Vamliz schaute wieder auf das Papier in seiner Hand und sagte dann mit ratlosem, beunruhigtem Gesicht: "Er muss schon gestern Nacht aufgebrochen sein! Ich habe noch mit ihm gesprochen, er schien sehr schwach... aber mein Tutor hat mich schon oft überrascht. Mentor Kosteras hat oft gesagt, dass, wenn die Zeit gekommen ist, er in die Berge gehen will..."
"Beeilen wir uns also! Phea‘zas wird mit Freude wieder einmal seine Flügel richtig strecken!" Yoozua wandte sich schon zum Gehen, zögerte kurz und pflückte einen leuchtend roten Apfel von einem tiefhängenden Ast. Krachend biss er hinein; "Wirklich ein wunderbarer Garten!" sagte er schmatzend, als er durch das Tor ging.
Sein älterer Freund blickte noch einmal über die Schulter zurück in die leere Kammer...
Hier würde ihm Kosteras nie mehr bis weit in die Nacht Geschichten erzählen.
*
Ein jauchzender Jubelschrei entfuhr Yoozuas Kehle, als er und sein Gandarva Phea‘zas zum dritten Mal knapp über seinen Freund und dessen Tier hinwegschossen. Sie zogen einen kräftigen Luftschwall hinter sich her, der Vamliz beinahe aus dem Sattel hob. Mit einem erschreckten Atemzug sah er hunderte von Metern unter sich zerklüftete Gesteinsmassen vorbeirasen.
"Yoozua! Du solltest –" Aber da sah Vamliz, dass Phea‘zas und sein Reiter plötzlich eine scharfe Kurve nach links gezogen hatten und nun von einer kleinen Schlucht verschluckt wurden. Unvorstellbar, dass ich Gandarvas früher geliebt habe... Diese Felsritze ist ja kaum vier Meter breit!
Ein kleines, angedeutetes Schulterzucken, dann drückte er sein linkes Knie leicht in die weiche Brust seines Tieres. Mit kräftigem Flügelschwung legte es sich in die Kurve und segelte pfeilschnell auf die schmale Kerbe in der Felswand zu. Weit vorne erkannte Vamliz einen weissen Fleck vor dem grauschwarzem Berggestein: Yoozua und Phea‘zas.
Der Wind pfiff laut durch die Schlucht, als Elf und Tier in sie hineinschossen. Alles um Vamliz war verschwommenes Grau – Klippen und Grate, die so schnell an ihm vorbeizogen, dass er sie gar nicht richtig ins Auge fassen konnte. Plötzlich etwas Weisses zu seiner Rechten - Yoozua hatte sich zurückfallen lassen und schrie jetzt mit fröhlichem Lachen gegen das Brausen des Windes an: "Gute Abkürzung! Sind gleich da!"
Dann schob sich langsam eine riesige Felswand in das Gesichtsfeld der beiden Elfen. Sie leuchtete in intensivem Orange, das nach unten in dunkles Rot zerfloss; die Abendsonne warf ihre Strahlen flach über den Horizont hinweg an die Berge, wo sie langsam den Tag verbluten liess.
Je näher die Elfen der Wand kamen, desto mächtiger schien sie sich nach den Wolken zu strecken. Die beiden Reiter liessen ihre Gandarvas etwas gemächlicher fliegen und genossen still den grossen Anblick.
Das erste Abendblau legte sich schon über Teile des Firmaments, als Vamliz mit weichen Knien vorsichtig vom Rücken seines Tieres rutschte. Yoozua war vor ihm gelandet und flüsterte seinem Gandarva einige Worte zu: "Das hast du gut gemacht, Pheez! War ein schöner Flug, nicht?"
"Nein!" fuhr Vamliz dazwischen und zwang sich zu einem trockenen Lächeln. Er hatte sich auf einen grossen Stein gesetzt, um seine zitternden Beine etwas zu beruhigen.
Sein Freund wandte sich zu ihm und schmunzelte so breit wie es mit seinem schlanken Gesicht überhaupt möglich war. Dann sagte der Luft-Schüler fröhlich: "Ihr beide seid für solche Dinge wohl doch schon zu alt! Zian ist schliesslich noch älter als du!" Er streichelte dabei über den Kopf des Gandarvas, das sich mit einem kurzen Röhren dafür bedankte.
Vamliz bemerkte, dass sich sein Schatten auf dem dunkelgelben Boden vor ihm weit in die Länge zog. Sie mussten sich beeilen. "Komm, wir müssen weiter! Die Sonne geht in solchen Tälern schnell unter..." Und mit etwas gespieltem Stolz fügte er hinzu: "Und übrigens: dass deine Mutter, die Fürstin, mir ihr Gandarva anvertraut, ist eine grosse Ehre! Und wenn Zian zweihundert Jahre alt wäre, so flöge ich mit ihm bis nach Zanry-la!"
Die beiden Elfen lachten und befahlen dann ihren Tieren, bei einem grossen Stein auf sie zu warten. Sie waren sich einig, welche Richtung zum Zierlyn-Pfad führte und brachen eilig auf.
*
Schwer atmend und dabei vergnügt lachend durchquerten die beiden Schülerinnen den langen Hof, der von der Feuer-Arena zum kleinen Park inmitten der Hallen der Mentoren führte. Sie hatten beide noch ihre Trainingsschwerter in der Hand, und auf der schwarz-violetten Haut der kleineren Schülerin glänzten frische Schweissperlen. Auch Lenyas leichte Turngewänder waren nassgeschwitzt; ihre schneeweisse Haut schien neben der dunklen Kleidung beinahe zu leuchten.
Plötzlich rief Lenya: "Azya: Wettrennen!" und begann sofort, mit weiten, schnellen Schritten loszulaufen. Überrascht blieb ihre Freundin Azya zuerst stehen, nur um dann mit gespieltem Schimpfen hinterherzuhetzen. Die langen Haarzöpfe der beiden hüpften schnell auf und ab, als sie rasant über Schwellen und Stufen sprangen, unter den knielangen Röcken wirbelten kraftvoll und geschickt kräftige Beine, ohne je einen unsicheren Schritt zu tun.
Zwei-, dreimal stiess Lenya beinahe mit einem anderen Schüler zusammen, schliesslich streifte sie sogar knapp an einer Mentorin vorbei, deren strengen und bösen Gesichtsausdruck sie nur vorüberflitzen sah. Sie konzentrierte sich immer mehr auf die Bewegungen ihres Körpers, auf das Laufen. Das pulsierende Blut. Die auf Marmorboden hallenden Schritte.
Dann hatte sie endlich weiches Gras unter den Füssen – und blieb mit hängenden Armen stehen. Schnappte glücklich nach Luft.
Einige Sekunden später lief auch Azya über die Ziellinie – den säulengesäumten Ausgang, der zu der kleinen Wiese führte, in deren Mitte sich der Park der Ruhe befand. Mit Freude bemerkte die Erd-Schülerin, dass die helle Nachmittagssonne ihr nach all den kühlen Steinhallen sofort Wärme in die Knochen trieb und der Schweiss auf ihrer dunklen Haut rasch verdampfte.
Ohne auf Schüler und Mentoren zu achten, die unter den Säulengängen wandelten oder das schöne Wetter geniessend in Diskussionen versunken über die Wiese gingen, liessen sich die beiden Elfinnen ausgestreckt ins Gras fallen.
Nachdem sie eine Weile dort gelegen waren und die über ihnen thronende Himmelsweite betrachtet hatten, sagte Azya mit gespieltem Ernst: "Wenn du keinen Vorsprung gehabt hättest..."
"... hätte ich gar nicht mitgemacht!" rief Lenya amüsiert dazwischen. "Hast du gesehen, wie ich fast mit Mentorin Arteem zusammengestossen bin? Wirklich: Ich würde lieber ein Ernu küssen, als mit Arteem Streit zu haben!"
Beide versuchten nun, den strengen Blick der Mentorin nachzumachen, und als es beiden nicht richtig gelang, drehte sich Azya wieder auf den Rücken und schaute plötzlich leise seufzend in den Himmel.
Lenya konnte erkennen, wie sich in den hellgrünen Augen ihrer Freundin eine vorbeiziehende Wolke spiegelte. Sie betrachtete Azyas schmales Gesicht, die hohen Wangenknochen, die glänzenden schwarz-braunen Haare. Und die seidene, weiche, schwarze und doch hundert Farben tragende Haut. Wie schön sie ist...
Azyas Stimme war voller Sorge, als sie sich plötzlich aufrichtete und sagte: "Lenya, du weisst ja, dass Madeez dem Späh-Korps angehört. Er ist sehr ehrgeizig. Er... Madeez wurde befördert. Er wird den nächsten Späh-Trupp ins tiefe Land leiten..."
Lenya starrte einige Augenblicke wortlos weiter in die Blaue Leere des Himmels. Sie war aller tröstenden Worte beraubt. Natürlich war über das Späh-Korps Zuunarus nicht viel bekannt, aber jeder Bewohner Omoys wusste, dass es in der Armee keine gefährlichere Aufgabe gab, als das tiefe Land zu erkunden. Lenya hatte gehört, dass die Hälfte aller Solaten nicht lebend von den Erkundungs-Missionen zurückkehrten. Was also konnte sie Azya sagen?
Endlich legte sie ihre Arme um die Schultern ihrer Freundin und strechelte sie sanft. Als ihr Blick sich traf, sah Lenya, dass Azyas Augen feucht glänzten. "Er hat schon lange davon geträumt, von Omoy wegzugehen. Er sagte immer: ‚In dieser Stadt kann... –‘"
Da versagte Azyas Stimme und die Erd-Schülerin rückte ihr Gesicht in Lenyas Brust. Nur leise hörte sie ihre Freundin tief schluchzen.
Als Azya nach nur kurzer Zeit wieder aufschaute war die Angst nicht mehr das einzige, was aus ihren Augen strahlte - eine grosse Entschlossenheit hatte sich dazugesellt, und ihre Stimme klang beinahe grimmig: "Ich werde nicht hier bleiben, Lenya. Ich gehe mit Meedoz!"
Lenya erschrack und antwortete ohne Zögern: "Was sagst du da? Du hast doch auch all die Geschichten über das tiefe Land gehört? Über die Menschen? Selbst für Krieger ist es gefährlich, aber du bist eine Erd-Schülerin!"
"Eben deshalb muss ich ja mitgehen! Weil ich die Geschichten kenne, kann ich Madeez nicht alleine gehen lassen!"
Hilflos schaute Lenya um sich, als ob irgendwo im hellen Gras eine Antwort darauf verborgen wäre, wie sie ihrer Freundin helfen könnte. Sie nahm Azyas rechte Hand und drückte sie innig; "Madeez beherrscht die Feuer-Lehre mehr als die meisten anderen Schüler – er kann auf sich aufpassen! Weshalb solltest du dein Leben in Gefahr bringen? Azya!"
Die Erd-Schülerin schüttelte leicht den Kopf und sagte leise: "Sag mir, du würdest nicht dasselbe tun, wenn Vamliz ins tiefe Land ginge."
Eine Weile lang sassen die beiden Freundinnen stumm und reglos da. Dann liess Lenya die Schultern sinken und schloss langsam die Augen. Es gab nichts, was sie darauf erwidern konnte.
*
Die Zierlyn-Schlucht war kaum zweihundert Schritte breit. Auf beiden Seiten schossen beinahe senkrecht bucklige Felswände in die Höhe, zwischen denen nur ein dünner Streifen abendroten Himmels aufschimmerte. Von ihm herab gossen sich rosane Lichtwellen über den dunkeln Fels, die weiter unten in aus der Tiefe kriechenden Schatten verschwanden.
In der Mitte des engen Tals, links und rechts gesäumt von weit nach unten reichenden nachtschwarzen Schluchten, wand sich ein Pfad auf einem schmalen Grat in die Ferne.
Als Yoozua und Vamliz endlich das kleine Plateau erreichten, wo der Pfad seinen Anfang nahm, hockte Kosteras im Schneidersitz am Rande der Schlucht. Sein gebückter Rücken war ihnen zugewandt, er starrte konzentriert in die Schatten unter ihm.
Bevor die beiden Elfen den ersten Schritt auf ihn zu machen konnten, sagte er plötzlich: "Ihr kommt spät." Nicht der geringste Vorwurf lag in seiner Stimme. Er schien im Gegenteil beinahe enttäuscht zu sein, in seiner Ruhe gestört zu werden.
Schnell ging Vamliz zu seinem Tutoren hin und kniete sich neben ihn: "Entschuldigt, Tutor Kosteras! Ich konnte Yoozua lange nicht finden, und als ich ihn fand, da-" Lächelnd unterbrach der alte Mentor seinen Schüler mit einer kleinen Geste der Hand: "Ich habe gesagt, dass ihr spät kommt – aber nicht, dass ihr zu spät kommt. Die Geduld ist eine unterschätzte Tugend, Vamliz!"
"Tutor. Weshalb seid ihr hierhergekommen? Ihr seid schwach und dürft keine Anstrengung mehr auf euch nehmen!"
Der alte Elf legte seine feingliedrige Hand sanft auf seines Schülers Arm. Dann drückte er ein wenig zu und schaute Vamliz aus seinen hellen Augen lange an. "Ich habe versucht, dich soviel zu lehren, wie es meine Kraft erlaubte. Aber dennoch weiss ich vieles, wovon ich dir nichts erzählt habe. Der Tod ist mir sehr gut Bekannt... ein alter Freund beinahe!"
Als diesen Worten ein leises Lachen folgte, tauschten Yoozua und Vamliz schnell einen fragenden Blick aus, Yoozua, der noch im Rücken Kosteras‚ stand, zuckte sogar mit den Schultern. Was will Vamliz‘ Tutor überhaupt von uns - von mir? Und warum sind wir hier, beim Zierlyn-Pfad?
Kosteras erhob sich, auf den hingehaltenen Arm Vamliz‚ gestützt, und schaute die zwei eine Weile schweigend an. Hinter ihm erstreckten sich die Schatten der nahenden Nacht über immer grössere Flächen der Felswände. Ein aufflackernder Wind liess die Mäntel der drei Elfen flattern, so kalt und plötzlich, als hätte die Schlucht selbst einen Seufzer getan.
Schliesslich räusperte sich der alte Mentor und begann zu sprechen: "Ich muss und will diese Welt bald hinter mir lassen. Doch bevor ich meinen letzten Gang antrete, gibt es noch etwas, was ich dir, Yoozua d‘Huuva, sagen muss."
Respektvoll nickte Yoozua und senkte dabei die Augen. Dann fuhr Kosteras fort: "Du denkst wohl, dass wir uns kaum kennen – und wirklich: in den Hallen der Mentoren gab ich dir nie Unterricht. Nun, in Wirklichkeit kennen wir uns sehr gut. Ich -", jetzt grinste der Mentor sogar ein wenig: "Ich kenne dich wohl sogar besser als du dich selbst! Aber ich sollte nicht zuviel erzählen..."
Obwohl ein kleiner Hustenanfall den gebeugten Körper des alten Elfen leicht erschütterte bemerkte Vamliz erstaunt, dass sein Mentor viel kräftiger und lebendiger zu sein schien als seit vielen Wochen, vielleicht Monaten. Auch seine Stimme klang kraftvoll, als er weitersprach: "Eines aber verdienst du zu erfahren."
Plötzlich sprach der Alte beinahe im Plauderton weiter: "Du wirst der "Elfensohn" genannt, nicht wahr?"
"Ja, Mentor, manche Elfen nennen mich so." antwortete Yoozua entschlossen und ohne Zögern, dann fügte er etwas zaghafter hinzu: "Dieser Titel war jedoch nicht meine Idee..."
"Titel – sie bedeuten nichts. Nur wer du wirklich bist ist wichtig. Und es ist dies auch der Grund, warum ich mit dir sprechen wollte: du hast ein Recht darauf, zu wissen, wer du wirklich bist!
Glaube mir: es ist dies eine sehr schwer zu beantwortende Frage. Lange habe ich gebraucht, um sie für mich zu beantworten, lange wirst du brauchen. Ich kann es dir nicht selbst sagen, aber ich kann dir sagen, wo du deine Suche nach einer Antwort beginnen solltest; zwei Elfen gibt es in Omoy, von denen du zumindest einen aufsuchen solltest: deine Mutter Hanaya und deinen Tutor, Lehyoz d‘Antuv."
Verwirrt schaute Yoozua von seinem alten Tutor zu Vamliz und wieder zurück. Gerade, als er protestieren wollte, er wisse sehr genau, wer er sei, wandte sich Kosteras ab und ging auf den Zierlyn-Pfad zu. Wovon spricht der Mentor bloss? Und was will er in der Schlucht? Er muss mich verwechselt haben... oder er ist zu krank, um noch klar zu denken...
Vor dem Felsgrat machte der Mentor noch einmal Halt. Die Schlucht war nun in blaues Dunkel gehüllt und im schmalen Himmelsstreifen schimmerte blass der Mond.
"Vamliz: zu dir habe ich schon so oft gesprochen, und doch blieb so vieles ungesagt. Du warst ein tüchtiger Schüler und bist ein guter Elf. Ich..."
Für einen kurzen Moment wusste der Mentor nicht mehr weiter. Er blickte zögernd um sich, schluckte.
Besorgt ging Vamliz schon auf Kosteras zu, als dieser leise weitersprach: "Nichts! Es ist gut..."
Nach einer weiteren kurzen Pause: "Du trägst ein Schwert an deiner Hüfte, wie es jetzt viele Elfen tun. Bestimmt kennst du die Gefahren, die solche Dinge heraufbeschwören...
Aber in jeder Gefahr sollst du dich an dies immer erinnern: deiner Gefährtin Lenya wird nichts geschehen, um sie musst du dich nicht sorgen! Vergiss dies nie!"
In Vamliz‚ Brust pochte schon lange schmerzende Sorge um seinen Tutor. Nach diesen Worten konnte er vor Verwirrung und Unruhe beinahe nicht mehr stillstehen. Mit ausgestreckter Hand ging er einen Schritt auf Kosteras zu. "Mentor Kosteras, ich verstehe nicht, wovon ihr sprecht - ihr seid schwach, der Marsch hierher war lang... kommt, wir gehen nach Hause!"
Ddoch der Alte schüttelte dazu heftig den Kopf und rief laut: "Es geht mir gut! Ich kann nicht mehr sagen; du darfst meine Worte nie vergessen, ihr beide nicht!
Vamliz, ich muss jetzt gehen. Ich will gehen... Ihr habt beide eine grosse Kraft in euch, ihr braucht meine Hilfe nicht mehr. Lebt wohl!"
Langsam wandte sich Kosteras dem Pfad zu. Vamliz schaute verzweifelt zu seinem Freund hinüber, und als Yoozua nur hilflos die Augen aufriss, stürzte er seinem Tutor hinterher. Er fiel hinter ihm auf die Knie und breitete hilflos die Arme aus. Was kann ich... was hat... ich kann nicht...
Sein Mund öffnete und schloss sich mehrmals während er aufgeregt nach Worten rang. Dann schrie er: "Tutor Kosteras! Tutor! Wartet! Ihr... ihr müsst mir etwas mitgeben, ich... irgendetwas!"
Kosteras schaute zu der kleinen Platform zurück und lächelte sanft.
"Wenn du von mir einen tröstenden Spruch erbittest, so muss ich dich enttäuschen. Das Leben ist zu schwer, als dass man ihm mit nichts als einigen weisen Worten begegnen könnte. Vielleicht ist die Liebe das wichtigste, und Worte kann man nicht lieben. Erinnere dich an mich, nicht an meine Worte!"
Alle Kraft wich aus Vamliz Gliedern, er fühlte sich plötzlich müde wie nie zuvor. Diese gebückte, schwache Gestalt, die wenige Schritte vor ihm zwischen zwei Schluchten stand, die von dem umgebenden Fels beinahe erdrückt wurde, sie war in seinem Leben immer da gewesen, ganz nahe.
Jetzt, kalter Wind strich um seine Kleider, blies eisig über sein Gesicht, jetzt, auf schmerzenden Knien auf dunklem Stein in einem engen Tal, wurde Vamliz mit einem Schlag erst bewusst, wie sehr er seinen Tutor geliebt und gebraucht hatte.
Und Vamliz wusste, dass es nichts mehr zu sagen gab; ein leises Schluchzen hallte durch die Stille, dann rollten schwere silberne Tränen über seine schwarzen Wangen.
Yoozua trat neben seinen Freund und legte ihm die Hand auf die zuckende Schulter. Einige Herzschläge lang schauten er und der alte Kosteras sich in die Augen. Dann ging der Mentor weiter auf den Pfad.
Nach einer Weile hatte sich Vamliz wieder erhoben und stand mit leerem Gesichtsausdruck neben Yoozua am Ende der kleinen Plattform.
Als Kosteras gerade tief in der Schlucht aus ihrem Blickfeld zu verschwinden drohte, wandte er sich noch einmal zu ihnen um. "Bevor ich gehe, will ich euch noch etwas zeigen. Wisst ihr, dass vor langer Zeit alle Mentoren, deren Zeit gekommen war, durch die Zierlyn-Schlucht gegangen sind?
Es ist eine sehr schönes Ritual. Und nur deswegen will ich es vollbringen. Was auch immer die Elfen in Omoy über mein Verhalten sagen werden, ob sie es missbilligen oder ob sie es begrüssen werden – hört nicht auf sie. Meine wirklichen Gedanken kennt keiner von ihnen...
Aber nun: sieht euch die Wände an!"
Die beiden sahen verwirrt die Felswände an. Auch mit zusammengekniffenen Augen konnten sie nichts erkennen als zerklüftetes Gestein.
"Es gab hier einst wunderbare Malereien. Heute sind sie beinahe unsichtbar, aber sie sind noch immer da..." Kosteras breitete die Arme aus, richtete die Handflächen gegen die beiden Felswände. Dann hörten die jungen Elfen flüsterndes Murmeln, undeutliche Wortfetzen. Ein leises Knistern tönte durch die Schlucht.
Da stiess Yoozua Vamliz leicht mit dem Ellbogen an, wies mit dem Kinn auf eine der Felswände. Wie durch tiefes Wasser schimmerte dort undeutlich ein Bild. Immer kräftiger wurden die Umrisse, nebelhaft erschieh eine Gestalt. Ein riesiger Vogel mit weit gestreckten Schwingen, Gefieder aus tausend Rottönen. Ein Phoonyz! Das Bild muss Jahrhunderte alt sein!
Und obwohl die Malerei nur mit groben Strichen auf den Fels geworfen war, schien der Vogel von innerem Leben zu glühen.
Jetzt bemerkte Vamliz, dass auch auf der gegenüberliegenden Felswand ein Bild aufgetaucht war; dort war es ein gewaltiger Zeebreu, über dessen rot-schwarzes Fell der Wind kleine Wogen wallen liess.
Wogen? In einer Zeichnung? Wie... aber?
Schnell blickte Vamliz zurück zu seinem Tutor. Der alte Elf wurde nun von beiden Seiten von hellrotem Licht erhellt, das wie loderndes Feuer flackernde Schatten über seinen Umhang warf.
Immer wieder spannten sich kleine, blendend leuchtende Blitze von seinen Händen zuckend zu den Bildern im Fels. Kleine Wölkchen stiegen auf, als die Feuchtigkeit auf dem Gestein unter der Hitze der Blitze zischend verdampfte. Kosteras zitterte leicht, wie unter Schmerzen oder einer grossen Anstrengung. Ohne dass er es wollte flüsterte Vamliz leise: "Tutor Kosteras... was...?"
Die Arme des Alten sanken plötzlich kraftlos nach unten, die Blitze erstarben mit sanften Knistern. Aber die Bilder blieben. Und sie bewegten sich jetzt! Als stünden dort ein wahrhaftiger Zeebreu und ein lebendiger Phoonyz schauten die Tiere neugierig um sich – und blieben doch nichts Felsmalereien! Ein warmes Leuchten ging von ihnen aus, als wären die Steine entflammt.
"Vor langer Zeit haben diese zwei Wächter alle Mentoren auf ihrem Weg begleitet! Jetzt werden sie mich beschützen. Mach dir keine Sorgen um mich, Vamliz. Und nun: lebt wohl!" Mit diesen Worten drehte sich Kosteras zum letzten Mal um und entschwand. Beide Tiere folgten ihm, sein Weg wurde von ihrem Schein erleuchtet. Wie farbige Wellen flossen sie über die Oberfläche des Steines.
Der Zeebreu mit zuckendem Schwanz, der Phoonyz mit gemächlichem Flügelschlag.
Augen und Mund weit aufgerissen taumelte Vamliz nach hinten, stiess an die Felswand und liess sich in die Hocke gleiten. Er vergass einen Moment zu atmen und japste dann ruckartig nach Luft.
Gegen den roten Lichtschein der Schlucht erschien einige Meter vor ihm die grosse Gestalt Yoozuas als schwarzer Schatten. Der Elfensohn stand breitbeinig da und blickte mit hocherhobenem, konzentriertem Gesicht dem verschwindenden Mentors nach. Er regte nicht einen Finger, nur sein langgestreckter Schatten tanzte zuckend im Lichtflackern auf dem blauen Fels.
*
"Fürst Zuunaru wird sie jetzt sehen."
Meedoz nickte dem Diener zu und ging dann schnell den hohen Korridor hinunter zum Saal, in dem der Fürst auf ihn wartete. Wie Meedoz es erwartet hatte, stand Zuunaru vor dem grossen Kamin und schaute konzentriert in die Flammen. Es waren noch einige Stunden bis zur Abenddämmerung und die Luft war sehr mild, aber der Fürst schien das Feuer zu jeder Zeit brennen zu lassen.
"Fürst Zuunaru, Tensu Meedoz zur Stelle!" Meedoz‘ Schwert schepperte laut bei diesem Gruss.
Auch dies war der junge Krieger gewohnt: dass Zuunaru sich nicht umwandte, um mit seinen Besuchern zu sprechen. "‘Tensu Meedoz‘... Das hört sich besser an als Lumad, wirklich! Ich kenne keinen anderen Elfen, der schon in ihrem Alter zum Tensu befördert wurde. Nun, sie haben ja bald die Gelegenheit, zu beweisen, ob sie dieser Ehre würdig sind."
Meedoz war sich nicht sicher, ob er sich für diese Worte bedanken sollte oder ob sie als eine Art Warnung gedacht waren, also verbeugte er sich leicht und schwieg.
Nun drehte der Fürst sich vom Kamin ab und schritt zum Durchgang auf den Park. Mit einer kleinen Bewegung der Hand bedeutete er dem Tensu, ihm zu folgen. Stumm überquerte sie die Terrasse, gingen eine kleine Treppe hinunter und betraten einen schmalen, gepflegten Kiespfad. Das Knirschen ihrer Schritte endete erst am Ufer des dunkeln Teichs, wo Zuunaru die Arme verschränkte und weitersprach.
"Meedoz, ich weiss, dass sie denken, sie wären auf ihre Mission gut vorbereitet. Der Rat der Mentoren ist grosszügig mit dem Korps, wir haben die besten Krieger und die beste Ausrüstung. Wir versuchen, unsere Tensu so gut wie möglich zu unterrichten über das, was sie erwartet. Dennoch..."
Der Fürst wandte den Blick vom Wasser ab und schaute Meedoz direkt in die Augen. "Dennoch sollten sie nie vergessen, wie wenig wir das Land um Ifin kennen. Ihr Späh-Trupp wird weiter nach Norden vordringen als alle anderen zuvor. Was wir über die Gebiete jenseits des Umida-Flusses wissen stammt aus Aufzeichnungen, die über hundert Jahre alt sind..."
Nach diesen Worten verstummte der Fürst, er begann, langsam am Ufer entlang tiefer in den Park hineinzuwandeln. Meedoz konnte sich nicht daran erinnern, dass Zuunaru jemals bei einem Gespräch so oft umhergegangen war. Etwas verdutzt schaute er sich um; einer der Gärtner des Fürsten stutzte die Holunder-Büsche vor der Veranda des Palastes und war dabei in Hörweite des Pfades gelangt, auf dem die zwei gesprochen hatten. Hat der Fürst Angst davor, belauscht zu werden? Von einem Gärtner?
Im Laufschritt eilte Meedoz Zuunaru nach, der schon bis zum Rand des Wäldchens gelangt war. Erst nachdem sie ganz von Bäumen umringt waren, blieb der Fürst wieder stehen. Und er sprach weiter, als hätte er sich nie unterbrochen: "Und in hundert Jahren mag sich sehr viel ändern, wie man an dem Verfall der Sitten hier in Omoy trefflich feststellen konnte.
Tensu, das tiefe Land ist uns so unbekannt, dass manche der Späh-Trupps von dort nie mehr zurückkehren. Andere jedoch kommen zurück und wissen von nichts zu berichten! Haben weder Menschen noch andere Gefahren entdeckt!"
Des Fürsten Stimme war laut und unzufrieden geworden. Seine nächsten Worte klangen jedoch beinahe vergnügt: "Meedoz, was sagt ihr: welche Späh-Trupps sollten mich mehr erfreuen? Die zurückkehren oder die auf ewig verschwinden? Nun?"
Den Mund zur Antwort schon halb geöffnet, wusste Meedoz plötzlich nicht mehr, was er darauf erwidern sollte. Als Krieger und Angehöriger der Feuer-Kaste konnte es auf diese Frage nur eine Antwort geben - natürlich sollte möglichst kein Elf Omoys vor dem Feind sein Leben lassen. Aber der Fürst schien nicht das Offensichtliche hören zu wollen... Meedoz senkte den Blick zu Boden und sagte: "Fürst Zuunaru, ihr habt immer nur das Wohl Omoys im Auge."
Selbst Zuunaru war überrascht von dieser ebenso kurzen wie geschickten Antwort. Ein kaum sichtbares Schmunzeln erschien in seinen Mundwinkeln. Er strich sich mit der Hand langsam über den Bart, und dann war es verschwunden.
"Ihr seid klüger, als ich gedacht habe, Tensu. Das Wohl Omoys, das Wohl des Elfen-Volkes, ist ein ehres Ziel. Es ist das grösste Ziel, und viele Mittel sind recht, es zu erreichen.
Wann immer ein Späh-Trupp von seiner Mission nicht oder nur mit Not zurückkehrt, ist der Rat der Mentoren mehr als bereit, meine Sache zu unterstützen. Kehrt ein Späh-Trupp unbeschadet aus dem tiefen Land zurück, mehren sich die Stimmen, die unser Korps schwächen oder gar auflösen wollen."
Meedoz wusste, wo seine Stärken lagen; in seinen Armen und Beinen nämlich. Die Luft- und Wasser-Lehren lagen ihm nicht, ebensowenig die Diplomatie und das – wie er es nannte – "Um-die-Ecke-Reden". Dennoch ahnte er, worauf der Fürsten hinauswollte.
"Fürst Zuunaru, natürlich werde ich mein Bestes tun, um meinen Trupp heil wieder nach Omoy zu bringen. Aber wie ihr sagtet ist das tiefe Land ein unbekannter, gefährlicher Ort..."
Bei diesen Worten bemerkte Zuunaru, dass der Tensu ihm folgen konnte. Dies liess ihn wieder leicht Schmunzeln. Aber für einen winzigen Moment huschte über seine Augen ein Schatten von Trauer und Zweifel.
*
Als Yoozua das Anwesen der Familie betrat, war die Nacht schon lange eingebrochen. Die helle Mondsichel spiegelte sich auf den winzigen Wellen des Teiches, über dem zahllose Insekten wuselnd durcheinandertanzten. Obwohl Yoozua es liebte, in der Nacht durch den Park zu gehen, hatte er schon lange keine Zeit mehr dazu gefunden. Die Mentoren drängten ihn, immer härter zu arbeiten. Und er achtete darauf, auch unter den Schülern gut dazustehen. Nur selten liess er Wettkämpfe an sich vorbeigehen.
Aber Yoozua wusste, dass es ein besonderer Tag gewesen war. Er war beinahe zu Tode gestürzt. Und er hatte einen alten, geehrten Mentoren in den Tod gehen sehen. An so einem Tag, in so einer Nacht, konnte er sich die Zeit nehmen. Er so verliess er den Pfad, der zum Palast führte, und wandte seine Schritte zum nahen Wäldchen.
Wie jedesmal, wenn er den Park durchstreifte, spülten in ihm die Erinnerungen hoch; um die Ställe das Versteckspiel mit Vamliz, auf dem Steinpfad die endlosen Lektionen seines Tutors, dort, neben dem grossen Felsbrocken, den er seiner Form wegen immer die "Grossmutter" genannt hatte, sein erster Flugversuch auf einem Gandarva, der Sturz, Geeroz der Stalldiener, der ihm zu Hilfe eilte...
Aus seinen Gedanken wieder aufgetaucht erkannte Yoozua im Halbschatten der Bäume die hochgeschossene, vertraute Silhouette seines Vaters. Zuunaru bemerkte seinen Sohn erst, als dieser neben ihn trat und sich leise räusperte. Nach einer Weile erst fragte er: "Eine wundervolle Nacht, nicht wahr, Vater?"
Der Fürst hob den Blick zum Mond, vor dem ein dünner Wolkenschleier vorbeizog. "Eine schöne Nacht, ja. Wären meine Gedanken so friedvoll und ruhig wie diese Nacht, wieviel mehr könnte ich sie geniessen..."
Wie aus dem Schlaf erwacht wandte Zuunaru sich plötlzich um und sprach mit energischer Stimme weiter: "Aber der mühevolle Weg allein ist es wert, dass man ihm folgt – ‚Yohr‘ asbe in zan Umut!‘ Gut, dass auch mein Sohn dies weiss." Und er schaute zurück auf den Teich.
Nie hatte Fürst Zuunaru viel Zeit mit seinem Sohn verbracht. Er war wohl der Beschäftigste aller adligen Elfen Omoys, und das nicht erst seit das Späh-Korps gegründet worden war. Yoozua aber war schon als kleines Kind täglich von seinem Tutor unterrichtet worden – sein Leben lang hatte er mehr Zeit in den Hallen der Mentoren verbracht als alle anderen Schüler. Mit seinem Vater Zuunaru sprach er nur selten. Und wenn wir es tun, dann spricht mein Vater von nichts anderem als von den Lehren. Als wäre er nur ein weiterer meiner Mentoren...
Normalerweise hätte Yoozua höflich genickt und den Satz wiederholt, den sein Vater zitiert hatte. Aber wieder dachte er daran, wie an diesem Tag die Dinge anders gewesen waren. Er dachte an die Worte des alten Kosteras: "Du hast ein Recht darauf, zu wissen, wer du wirklich bist!"
Dabei weiss ich nicht einmal, wer mein Vater wirklich ist...
Diesmal würde er sich nicht so schnell zufriedengeben; "Ja, Vater, die Weisheit der Lehren ist nicht zu leugnen. Aber was ist es, was euch die Nacht so mühevoll macht?"
Als Zuunaru Yoozua diesmal ansah, lag ein Anflug von Zorn in des Vaters seinen Zügen. Diese unverschämte Neugierde wollte er nicht billigen. Aber er besann sich, sein Blick wurde plötzlich freundlicher. Weshalb sollte sein Sohn denn nicht mehr über seine Sorgen erfahren?
"Sohn, ich kann diese Nacht nicht geniessen, weil ich mich darum sorge, ob unserer Stadt Omoy solche Nächte nicht bald für immer entrissen werden."
"Ihr sprecht von den Menschen, richtig, Vater?"
"Von den Menschen, ja... Aber auch von uns selbst. Von unserer Art, zu Leben."
Yoozua hatte seinen Vater noch nie so nachdenklich gesehen. Er fürchtete, dass jedes falsche Wort ihn wieder kühl und selbstsicher werden lassen könnte. Also nickte er nur und sah Zuunaru weiter fragend an.
Zuunaru sprach jetzt leise, zögerlich. "Yoozua, ich weiss nicht, wie du über deinen Vater denkst. Ich hatte nie Zeit für dich...
Jeder hat eine Aufgabe im Leben, und für mich ist im Unterschied zu anderen Vätern diese Aufgabe nicht mein Sohn, nicht du. Ich kümmere mich nicht nur um dein Schicksal – meine Sorge ist das Wohl unseres ganzen Volkes!
Ob du dies wirklich verstehen und glauben kannst, vermag ich nicht zu beurteilen. Aber wenn ich ein Späh-Korps aufstelle, wenn ich vor dem Rat spreche, selbst wenn ich in diesem Park umhergehe – immer gelten meine Gedanken nur dem einen Ziel!"
Inzwischen hatte Zuunarus Stimme beinahe wieder den Tonfall, den Yoozua schon immer gekannt hatte. Und seines Vaters Augen begannen auch wieder, lebendiger zu werden, glänzend und hellwach. "Das tiefe Land ist für uns alle wie eine unerforschte Höhle im Berg. Selbst ich weiss nicht viel mehr als jedes Hausmädchen hier in Omoy!
Vielleicht sind die Menschen in den letzten hundert Jahren gar friedlich geworden, vielleicht droht uns von aussen gar keine Gefahr... aber dann droht sie eben von innen! Verstehst du?"
Yoozua, der sich gerade noch überlegt hatte, ob er seinen Vater auf die Abschiedsworte des alten Kosteras ansprechen sollte, spürte jetzt, dass Zuunaru gar nicht mehr richtig zuhören würde. Wenn sein Vater von dem "einen Ziel" sprach, liess er sich von nichts ablenken. Was als Gespräch begonnen hatte, war spätestens jetzt zu einem Vortrag geworden.
Zuunaru fasste seinen Sohn an der Schulter, schüttelte ihn leicht: "Yoozua, nicht alle Elfen sind so wie du oder ich! Es gibt Orte in Omoy, wo niemand mehr lesen und schreiben kann – weil die Elfen zu faul sind zum Lernen! Manche Fürsten und ihre Gefährtinnen verlassen das ganze Jahr über ihre Paläste nicht mehr – weil sie zu träge sind, auch nur in ihren Parks zu wandeln!
Deshalb müssen wir an zwei Fronten kämpfen – gegen den Feind im Innern und gegen den Feind von aussen!"
Obwohl er seines Vaters Überzeugungen kannte, obwohl er schon unzählige Male die Mentoren über diese Dinge hatte sprechen hören, musste Yoozua in diesem Moment eine Frage stellen. Wenn er sie jetzt nicht stellte, würde er vielleicht lange Zeit nicht mehr den Mut dazu finden.
"Aber Vater... Ihr sagt selbst, dass niemand das tiefe Land kennt, dass die Menschen vielleicht friedlich sind! Weshalb also müssen die jungen Elfen Schwerter tragen, weshalb wollt ihr, dass sich das Volk zum Krieg rüstet?"
Zuunaru antwortete zornig und vorwurfsvoll: "Weshalb fragst du dies, da ich es dir doch eben sagte! Ob von aussen wirklich Gefahr droht oder nicht, ist unwichtig! Wichtig ist nur, dass unser Volk zur Tugend und zu den Lehren zurückfindet – und das kann es nur, wenn es sich gegen einen äusseren Feind verteidigen muss! Es ist ganz einfach!"
"Ich verstehe."
Er hätte gar keine andere Antwort geben können. Nicht in diesem Moment.
"Danke Vater, dass ihr so viel Geduld mit mir hattet." Sagte Yoozua noch und wandte sich zum Gehen. Zuunaru nickte ihm zu und zog dann seinen Mantel enger um sich. Er würde noch nicht in den Palast zurückkehren.
Als Yoozua einige Schritte gegangen war, hörte er seinen Vater sich räuspern. Er blickte zurück.
"Yoozua... du verstehst vielleicht nicht, was dies in solchen Zeiten bedeutet... aber du solltest wissen, dass ich dich für einen echten Elfen halte."
Die beiden schauten sich einen kurzen Moment lang still an. Dann wandte Zuunaru sich zum Teich weg.
Und Yoozua ging weiter auf dem kleinen Kiesweg zum Palast.
*
Am darauffolgenden Tag hatte sich die Nachricht von Kosteras‘ Tod in der ganzen Stadt verbreitet. Viele der Schüler und die meisten der alten Mentoren hatten lange um seinen Zustand gewusst und waren kaum überrascht. Wenn sie es waren, dann nur über die Art seines Verschwindens. Er hatte sich zwar genau an die Sitten der Vorfahren gehalten, aber die waren schon seit vielen Jahren nicht mehr so wörtlich befolgt worden.
In den Hallen der Mentoren entbrannte darüber ein heftiger Streit. Während nämlich manche der traditionsbewussten Elfen es für lobenswert hielten, dass das alte Ritual des Zierlyn-Pfades wieder absolviert worden war, hielten andere dagegen, es hätten sich neue Gebräuche entwickelt und es sei falsch, so einsam aus der Welt zu gehen.
Am Ende aber überwog die Meinung, Kosteras habe richtig gehandelt. Die Wasser-Mentorin Umyuza brachte die letzten Zweifler zum Schweigen; "Gerade angesichts dessen, dass wir in dieser Zeit darum kämpfen, die alten Tugenden und Lehren erstarken zu lassen, sollten wir Kosteras für dieses glänzende Beispiel dankbar sein!"
Andere schlugen ihn gar für den Ehrenorden der Späh-Legion vor. Auch Fürst Zuunaru verkündete, dass er des Mentors Entscheidung für bewundernswert hielt.
An diesem Abend trat der Rat der Mentoren zusammen, um dem Verstorbenen die Ehre zu erweisen.
Vamliz und Yoozua warteten schon seit Sonnenuntergang vor dem Eingangsportal zur Ratshalle. Während viele der anderen Schüler, die vom alten Mentoren Abschied nehmen wollten, nur für wenige Minuten auf der grossen Marmortreppe verweilten und bald wieder schwatzend den Hügel zur Stadt hinuntergingen, sassen die zwei seit Beginn der Abschiedszeremonie schweigend auf dem Podest einer der grossen Statuen.
Vamliz, der seit der Rückkehr aus der Zierlyn-Schlucht kaum ein Wort gesprochen hatte, wollte so lange ausharren, bis auch der letzte Mentor die Ratshalle verlassen hatte. Er würde derjenige sein, der am längsten um Kosteras trauerte – und wenn ich ein Jahr hier sitzen muss!
Nicht nur, weil er seinen Freund begleiten wollte, war auch Yoozua entschlossen, vor dem Portal zu warten, bis die abschiedszeremonie zu Ende war. Yoozua wartete auch auf jemanden – seinen Tutor Lehyoz. Den ganzen Tag lang hatte er ihn in den Hallen zu finden versucht, doch in der Aufregung um den Tod Kosteras war dies nicht möglich gewesen. Aber Yoozua wollte so schnell wie möglich mit seinem Tutor sprechen. In seinem Kopf wuchsen seit dem Gespräch mit Kosteras und später mit seinem Vater immer mehr Fragen heran, und wenn er sie nicht bald loswürde, fürchtete er um seinen Verstand.
Nachdem auch die letzten Schüler verschwunden waren senkte sich eine tiefe Stille über den grossen Vorplatz der Ratshalle. Zwei Feuer säumten das Portal, aber ihr Licht reichte nicht weit, so dass die weite Treppe und alles um sie herum – die Bäume, die Felsen, die Statuen – nur noch als schwarze Umrisse erkennbar war. Weit unten leuchteten hell die Strassen Omoys, als hätte jemand flüssig glänzendes Gold über den Hang des Berges gegossen.
Eine Sternschnuppe stürzte glühend gegen den dunkeln Horizont. Bei ihrem Anblick liess Vamliz den Kopf zwischen die Knie fallen und schluckte heftig. Seine Kehle brannte heiss, es trieb ihm Wasser in die Augen.
Als Yoozua bemerkte, dass sein Freund den Tränen nahe war, erhob er sich rasch und begann, unruhig auf- und abzugehen. Seine Geduld nährte sich ihrem Ende. Aber ausser den Mentoren und den wichtigsten Adligen Omoys hatte niemand Zutritt zum Rat der Mentoren, also konnte er nichts tun als warten. Und es war nicht festgelegt, wie lange eine solche Abschiedszeremonie dauern sollte...
Er nickte den beiden Wachen zu, um ihnen sein Mitgefühl zu verdeutlichen. Die zwei jungen Soldaten mussten den ganzen Abend reglos ihre mächtigen Lanzen mit ausgestrecktem Arm vor sich hinhalten. Über ihren silberglänzenden Rüstungen trugen sie kostbare Mäntel aus schwerem, schwarzem Tuch. Auch die Stadtwache war von den Mentoren in den letzten Jahren reich bedacht worden.
Mein Vater ist ein fleissiger Elf. Und ich als sein Sohn – werde ich ihm gerecht? Und will ich das überhaupt?
Mit einem Gespräch konnte er sich vielleicht ein bisschen die Zeit vertreiben. "Der Dienst in der Stadtwache muss ja die Hölle sein..."
Der grössere der beiden Soldaten wandte seinen Kopf ein winziges Stück in Yoozuas Richtung und schaute ihn aus seinen nachtschwarzen Pupillen grimmig an. "Wir gehören nicht der Stadtwache an! Wir gehören zum Späh-Korps! Dies hier ist kein einfacher Dienst, wir übernehmen diese Wache zu Ehren des Verstorbenen!" knurrte er kalt.
Da bemerkte Yoozua, dass er den Soldaten kannte – es war Meedoz, ein junger Offizier, den er öfters im Palast seines Vaters gesehen hatte. Yoozua hatte es sich noch nie gefallen lassen, dass irgendjemand ihn so respektlos ansprach. Doch noch während er die Fäuste ballte und tief Luft holte, ertönte plötzlich ein dröhnendes Pochen.
Dann, unter lautem Knirschen, öffnete sich das Portal zur Ratshalle. Warmes, vielfarbiges Licht strahlte nun fast über die gesamte Breite der Treppe, und innert kürzester Zeit wimmelte es zwischen den beiden Statuen von unzähligen Mentoren und Fürsten.
Inmitten all dieser Würdenträger fühlte sich Yoozua plötzlich wie in einem Fluss, der über die grosse Treppe hinabfloss und ihn einfach mitriss. Aus Respekt vor den Mentoren wehrte er sich nicht dagegen, herumgeschubst zu werden, und so fand er sich bald ziemlich weit von der Ratshalle entfernt auf einem Felsen neben der Treppe wieder.
Von dort aus aber konnte er die Menge gut überblicken, und bald erkannte er die dürre, etwas abseits gehende Gestalt Lehyoz‘. Mit ein paar weitausholenden Schritten war er bei ihm.
"Tutor! Tutor Lehyoz, ich muss euch sprechen!"
Lehyoz blieb stehen und schaute seinen Schüler etwas überrascht an. Yoozua zögerte kurz, bis kein Mentor mehr in ihrer Nähe war.
"Tutor, ich... –" – er stockte – "Tutor, habt ihr Mentor Kosteras gekannt?"
Obwohl Lehyoz noch immer einen scharfen Verstand und Beine, die ihn tragen konnten besass, war einer der wenigen Elfen in Omoy, die in Jahren gemessen selbst Kosteras übertrafen. Der greise Mentor hatte Dinge miterlebt, die andere höchstens aus den Lehren der Wasser-Kaste erfuhren. Er kannte Omoy und seine Bewohner wie kein zweiter. Es war also eine törichte Frage, ob er Kosteras gekannt habe. Und törichte Fragen wollte Lehyoz seinen Schüler nicht stellen hören.
"Yoozua, du siehst meine knorrigen Beine, meine runzlige Stirn, und du fragst, ob ich Kosteras gekannt habe? Diese Frage liesse mich deinen Tutoren einen Narren schimpfen, wenn nicht ich selbst es wäre! Natürlich kannte ich ihn!"
Auch wenn Lehyoz‘ Stimme krächzend klang, trug sie immer noch weit genug, um ein paar vorbeigehende Adlige erschrocken hinüberblicken zu lassen. Yoozua hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt für seinen Versuch, um den heissen Brei zu reden. Dass dies mit seinem Tutor nicht gehen würde, war ihm eigentlich wohlbekannt.
"Verzeiht, es war eine dumme Frage. Was ich fragen wollte war, wie gut ihr in kanntet?"
Da erschien in des Tutoren Gesicht ein eigenartiger Ausdruck von Reue und gleichzeitigem Trotz. "Kosteras war ein... ungewöhnlicher Elf. Niemand kannte ihn wirklich gut. Auch ich habe nur selten mit ihm gesprochen. Vor vielen Jahren, noch vor deiner Geburt, hatten wir einen Streit, der... den wir nie mehr beendet haben."
Lehyoz schien noch etwas sagen zu wollen, zögerte, liess dann den Blick senken und schwieg. Normalerweise war Yoozua klug genug, seinen Tutor nicht zu etwas zu drängen. Aber in diesem Moment hatte er kaum eine andere Wahl. Er musste herausfinden, wovon Mentor Kosteras zu ihm gesprochen hatte...
"Tutor, entschuldigt meine Hartnäckigkeit... wisst ihr, dass ich in der Zierlyn-Schlucht war?"
Überrascht blickte Lehyoz auf. Er schaute seinem Schüler kurz tief in die Augen, als wolle er sich versichern, dass dieser die Wahrheit sage. Dann ergriff er ihn an einem seiner Ärmel und zog ihn mit sich weg von der Treppe.
"Du warst also dort... Und du hast mit ihm gesprochen?"
Nun war auch Yoozua ein wenig überrascht; Er hatte nicht zu hoffen gewagt, dass Lehyoz so schnell Interesse zeigen würde. Eilig antwortete er: "Ja, ich habe ihn gesprochen. Das heisst, eigentlich hat er mit mir gesprochen und ich habe zugehört."
Mit einem kaum merklichen Schmunzeln raunte Lehyoz: "Das gehört sich auch so... Also hast du doch etwas von mir gelernt! Aber nun sag, weshalb willst du mit mir sprechen? Was hat Kosteras gesagt?"
Aufmerksam beobachtete der Alte bei diesen Worten, wie nahe die Mentoren und Adligen, die in Richtung der Stadt gingen ihm und seinem Schüler kamen. Yoozua versuchte, sich durch das verwunderliche Verhalten seines Tutors nicht beunruhigen zu lassen – aber das gelang ihm nicht ganz. Vor wem will Lehyoz bloss Geheimnisse haben?
"Ihr müsst wissen, dass Mentor Kosteras mich zu sich kommen liess. Sein früherer Schüler hat mich zu ihm gebracht, dabei hatte ich –"
"Yoozua, übersetze bitte: Ukai zi‘in na Mazu!" unterbrach Lehyoz seinen Schüler harsch.
Ohne lange überlegen zu müssen erwiderte Yoozua: "‚Auch kurze Schlangen beissen giftig...‘ Entschuldigt, Tutor." Eigentlich fasste sich Yoozua meist eher zu kurz als zu lang. "Es scheint mir wichtig zu sein, festzustellen, dass ich vorher noch nie mit Mentor Kosteras gesprochen habe...
Nun, in kurzen Worten also: Mentor Kosteras hat über meine Herkunft gesprochen. Und er sagte mir, ich solle zu euch gehen, Tutor."
Eine Weile sahen die beiden sich wortlos an. Keiner von ihnen wandte den Blick ab, als ein dutzend Mentoren laut durcheinander sprechend einige Schritte neben ihnen vorbeigingen.
Lehyoz‘ Gesichtszüge verhärteten sich, der Alte atmete schnell und heftig. Er drückte seine Lippen so zusammen, dass sie in dem schwarzen Gesicht beinahe zu verschwinden drohten. Langsam überkam Yoozua eine dunkle, unheimliche Ahnung. Ein Gefühl der Ungewissheit und Hilflosigkeit. Wie Blut, das im Schnee versickert, breitete sich eine kalte Anspannung in seinem Körper aus.
Je länger sein Tutor ihn schweigend aus weit aufgerissenen Augen anstarrte, um so mehr schienen Yoozuas Glieder zu erstarren. Was auch immer er nun sagen wird, vielleicht würde ich es besser nie erfahren... Noch könnte ich die Ohren verschliessen...
Doch schon beendeten Lehyoz‘ leise gesprochenen Worte die Stille: "Yoozua, du solltest nie etwas davon erfahren - niemand sollte das! Wenn Kosteras es erfahren hat, dann mag wohl jeder in Omoy etwas darüber wissen..."
Wieder verstummte Lehyoz für einige Augenblicke. Immer deutlicher zeichnete sich in seinen Zügen Unruhe ab, und dann endlich auch Schrecken: "Und wenn es so ist, dann ist mehr als nur dein Leben in Gefahr. Wir sollten anderswo weitersprechen. Komm, wir haben vielleicht nicht mehr viel Zeit!"
Damit wandte Lehyoz sich um und zog seinen Schüler mit unerwartetet kräftigem Griff mit sich. Verwirrt und überrascht folgte Yoozua seinem Tutor in das Dunkel des Felshanges jenseits der grossen Treppe. Auch wenn das, was sein Tutor nun offenbaren wollte, ihm kaum gefallen würde, gab es kein Zurück mehr.
Ohne es zu wollen und ohne irgendeine Warnung war Yoozua an eine Sache geraten, die selbst einen so erfahrenen alten Mentor wie Lehyoz in Angst versetzen konnte. Irgendetwas in ihm sagte dem jungen Luft-Schüler, dass die Welt, die er bisher gekannt hatte, bald für immer ihr Gesicht verändern würde...
*
Vamliz hatte seinen Freund kurz nachdem das Tor zum Rat der Mentoren geöffnet worden war aus den Augen verloren. Er hoffte für Yoozua, dass dieser seinen Tutoren gefunden hatte. Ein stechender Schmerz durchschoss Vamliz, als er daran dachte, dass er selbst seinen Tutoren nie wieder finden würde.
Als er mit steinernem Blick die Mentoren und Adligen beobachtete, die aus dem Rat strömten und sich langsam auf die Stadt zubewegten, als er sah, dass manche von ihnen schon auf der grossen Treppe angeregt diskutierten und sogar scherzten, verzogen sich seine Lippen zu einem bitteren Lächeln. Eben noch hatten sie alle im Rat um Kosteras getrauert und sein Andenken geehrt, doch schon zwölf Schritte unter dem Sternenhimmel hatten genügt, sie wieder froh zu stimmen.
War es nicht beinahe zum Lachen? Wenn ein Mentor wie Kosteras einen ganzen Tag in Erinnerung bleibt, vielleicht kann ein König dann auf eine ganze Woche hoffen! Könnte man doch eine Handvoll dieser achtlosen Greise umtauschen gegen meinen Tutor...
"Geht man einem Älteren nicht aus dem Weg, Junge?" blaffte plötzlich jemand direkt in Vamliz‘ Ohr. Dieser schaute überrascht hoch.
Ein übellaunig dreinblickender, breitbeinig dastehender Adliger starrte ihn provozierend an. Der hohe, nach oben sich wellenförmig verbreitende gelbe Samthut und sein breiter Gürtel zeichneten ihn als einen hochrangigen Fürstensohn aus, obwohl er sich offensichtlich kaum angemessen zu benehmen wusste. Doch dasselbe schien er auch von Vamliz zu denken.
"Nun? Willst du nicht zur Seite treten?"
Mit Mühe konnte Vamliz seine instinktiv geballten Fäuste unten halten. Er kniff seine Augen ganz eng zusammen und beugte den Kopf einen Hauch nach unten. Nur zu gerne hätte er die hässliche, viel zu lange Nase dieses Fürstensohnes entzweigehauen. Seit sein Tutor ihn verlassen hatte, waren immer wieder Gefühle der Wut über ihn geschwappt, aber wie konnte er Kosteras Andenken besser bewahren, als indem er die Wasser-Lehre befolgte, über die er soviel von ihm gelernt hatte.
Daz rath' in ou men Zarthu, Daz rath‘ in ou men Zarthu!
Schliesslich machte Vamliz einen winzigen Schritt nach hinten.
Dies liess seines Gegenübers Gesicht sich zu einer grimmigen Grimasse verzerren, laut bellte der ihn nun an: "Genug davon! Du wirst dich sofort bei mir entschuldigen, Kerl!"
Einige der vorbeigehenden Mentoren wanden erschrocken den Blick. Auch einer der Soldaten war inzwischen aufmerksam geworden, mit der Hand auf dem Schwert trat er zackig zwischen Vamliz und den nun vor Wut zitternten Adligen.
"Herr, werdet ihr von diesem Jungen behindert?" fragte der Offizier mit sachlicher, aber eiskalter Stimme.
"Von diesem Jungen?" Dieser Elf ist nicht älter als ich... Daz rath!
Da bemerkte Vamliz, dass er den Soldaten kannte. Meedoz. Der Gefährte Azyas – und wenn ich mich nicht täusche ein Vertrauter Zuunarus. Bestimmt nicht ungefährlich, ihn als Gegner zu haben...
"Ich kann nirgends einen Jungen entdecken, Soldat!" erwiederte Vamliz laut, und das letzte Wort lief mit Spott beinahe über. "Aber wenn sie von mir sprechen, Soldat, so seien sie versichert, dass ich niemanden daran hindern will, nach dieser traurigen Zeremonie so schnell wie möglich fröhlich zurück in die Stadt und an den Hals einer tröstenden Flasche Wein zu eilen!"
Ohne es zu bemerken hatte Vamliz die Lippen weit zurückgezogen und zeigte nun seine fest aufeinandergebissenen Zähne. Hilflos spürte er, dass sich seine Gedanken nicht mehr klar ordnen liessen. Kosteras, seht ihr, mit wem ihr mich in der Welt zurückgelassen habt? In einem neuen Ansturm von brennender Trauer drohten all seine friedlichen Vorsätze weggreissen zu werden, beinahe wünschte er, seine zwei Gegner würden sich auf ihn stürzen.
Und wirklich: Der Fürstensohn warf sich mit geballten Fäusten und wütendem Heulen nach vorne. In einer fliessenden, blitzschnellen Bewegung riss Meedoz seinen Arm nach oben und schlug ihn dem Adligen quer über die Brust.
Scheinbar mühelos hielt er ihn so mit der
Linken zurück, während die Rechte weiterhin reglos auf dem Griff
seines Schwertes lag. Seine Stimme klang noch kälter als vorher: "Herr,
bestimmt wollt ihr euch nicht selbst beschämen indem ihr so kopflos
handelt wie dieser Schurke.
© Moritz Gerber