Das Haar im Auge als literarisches Thema

Ich wachte heute Morgen auf und merkte, dass mir etwas im Auge lag. Im Auge lag nicht in dem Sinne, dass mir etwas ins Auge gefallen wäre. Oder vielmehr wortwörtlich in dem Sinne, dass mir etwas ins Auge gefallen war.

Ich rieb mir das betroffene Auge ausführlichst, doch rieb ich mir nur den Schlaf und nicht das lästige Staubkorn aus. War es ein Staubkorn? Um dies zu ergründen ging ich ins Badezimmer, wo ein Blick in meinen Blick im Spiegel offenbarte, dass es vielmehr ein Haar war, das mich so unsanft geweckt.

Tränen, weniger der Trauer als des Unbehagens, vermochten dieses Häärchen ebensowenig zu entfernen wie erneutes Reiben und eine Dusche. Es blieb wohl oder übel nichts anderes zu tun als sich damit abzufinden zu versuchen. Ich suchte und fand. Denn wenn mancher täglich mit Haaren auf den Zähnen durch die Welt geht, dies als Trost, so durfte auch ich mir erlauben, ausnahmsweise ein Haar an unpassendem Orte zu tragen.

Erstaunlicher- und bedenklicherweise lag das Haar auch abends noch so, wie es sich morgens gebettet hatte. Was sollte ich tun? Es rausschwemmen, rausklauben, es reiben oder spalten? Das Letztere bestimmt nicht, und so liess ich erneut 5 Grade sein und beschloss, mein Augenmerk komplett von diesem Haar abzuwenden. Da ich von ihm überhaupt nichts mehr spürte, war es auch nicht weiter schwer.

Doch mag ich nun auch einen ganzen Tag später an meinem Pult sitzen, stehen tun die Dinge noch genauso wie gestern. Was heisst, sie liegen noch genauso wie gestern, so dass die Lage dieselbe ist.

Dies ist alles für den Leser kaum interessant, doch dazu komme ich nun. Es kam mir nämlich beim Beäugen meines Auges vor dem Spiegel der Gedanke, ich könnte einen Text über dies mein Erlebnis schreiben. Als ich fertig beäugt hatte, ging ich beherzt dahinter, mir über diese Möglichkeit den Kopf zu zerbrechen.

Aber ich merkte bald, dass mein Ansinnen wohl keinen Erfolg haben würde. Das Haar in meinem Auge, so dachte ich, ist kein zur Literatur geeignetes Thema. Wen interessieren fremde Augen, wenn es nicht die des Argus sind, oder solche zumindest, die einem schön gemacht werden? So schnell war ich aber nicht aufzugeben gewillt.

Vielleicht liesse sich ein Text über dies Erlebnis dann verfassen, wenn er sich nicht einfach mit einer schlichten Bestandsaufnahme von Haar und Auge begnügen würde (sie wäre einfach: 1, 1 – bzw. 1, 2), sondern möglichst viele Verweise enthielte, auf andere, ältere, schon Literatur gewordene oder dies immer gewesene Texte. Beim Mangel an Möglichkeiten liegt der Haken nicht, denn er – also beides - besteht nicht: schon in der Bibel kommt der „Splitter im Auge“ zur Sprache, und ebendorthin kommt auch ein bombastischer, wenn auch kaum glaubwürdiger „Balken“!

Und niemand sollte Niemand vergessen, der in der Odysse dem Zyklopen ein Auge aussticht. Oder man denke an die Szene in Nabokov’s „Lolita“, in der er erst aus hygienischen, dann aus ganz anderen Gründen ihr mit der Zunge die Augen leckt. Bei dieser Szene stellt sich mir zwar einiges zu Berge, aber literarisch ist sie zweifelsohne. Ein paar Verweise auf solches, und würde nicht mancher schon sich dabei bedenklich viel denken zu können glauben?

Auch der möglichen Wortspiele wären unzählige. „Da fielen meine Augen auf die Suppe, ich fand darin ein Haar und dies zum diesesraufen, so dass ich um ein solches ins Auge gefasst hätte, den Kellner um ein Gespräch unter vier ebendiesen zu beten.“

Schliesslich ist das Bild vom Haar im Auge schwer metaphernbeladen. So kann das Haar stehen für... doch da Metaphern nur verschlüsselt von Wert sind, mag der Leser selber durchschauen, was gemeint ist mit:

Ich habe ein Haar im Auge.

Oder, etwas unanständig,  mit:

Ich habe ein Haar im Auge.

Oder auch mit:

Ich habe ein Haar im Auge.

Oder gar ohne:

                                        .
 

Vermutlich aber hängt es einfach davon ab, wer der Verfasser ist, ob der Haar-Geschichte Gewicht beigemessen wird. Goethes Verdauungsstörungen, so glaube ich sagen wagen zu können, bewegen noch heute die Gemüter. Zumindest seine Berichte darüber. Gleichzeitig können 100‘000e von weniger bedeutsamen Menschen ein Haar im Auge haben, und es schert keiner und keinen.

Es mag also sein, dass nun weder die Geschichte selbst, noch Anspielungen und Verweise, noch Wortspiele den Leser unterhalten und überzeugt haben davon, dass das Haar in meinem Auge ein literarisches Thema sei. So sieht es der Leser vielleicht, findet das Geschriebene Blatt-platt, und sieht dabei nicht den gewissen kaum glaubwürdigen Gegenstand seinem eigenen gewissen Körperteil.

Mir zu Herzen genommen habe ich, dass immer unverfälscht und aus dem persönlichen Blickwinkel zu schreiben ist. Und dort, in und bedauerlicherweise auch auf meinem Blickwinkel liegt eben ein Haar.

Der Leser muss halt wie auch ich hin und wieder mal ein Auge zudrücken.


(c) Moritz Gerber