Das Bewusstsein; Blick durch die Augen des Buddhismus

Teil 1: Einleitung

Was? und Wie?

Ich vermute, eine der grössten Schwierigkeiten, die sich stellen, wenn man sich daranmacht, ein beliebiges Problem vom Standpunkt der Philosophie aus zu betrachten und zu durchdenken, ist es, eine klare Abgrenzung des behandelten Themas zu finden. Dazu reicht ein Titel mit sieben Worten bei weitem nicht aus, denn die Philosophie neigt meiner (zugegebenermassen ziemlich bescheidenen) Erfahrung nach dazu, sich nach allen Seiten hin auszudehnen und auch jedem noch so engmaschig gewobenen "Wortgeflecht" (erst recht also jedem noch so geschickt gesetzten Titel) zu entkommen und immer wieder neue Themenfelder zu berühren.

Des weitern scheint es mir, als ob die Philosophie im Unterschied zu den anderen Wissenschaften sehr oft keine klar festgelegte Betrachtungsweise der Dinge habe. Nimmt man zum Beispiel den einfachen Satz: "Zwei sind mehr als Eins", so kann jeder Mathematiker wie auch jeder Physiker sofort eine konkrete Aussage darin erkennen, und die beiden (Mathematiker und Physiker) könnten sich darüber unterhalten und sicher sein, dass sie beide über dasselbe sprechen - für den Philosophen aber wäre solch ein einfacher Satz bestimmt ein Anstoss zu weiterführenden Überlegungen oder gar Einwänden, und keine zwei Philosophen würden den Satz wohl auf dieselbe Weise interpretieren.

Schliesslich besteht neben dem Problem des "Was?" noch das des "Wie?". Man kann ein Thema zum Beispiel rein gefühlsmässig angehen, oder versuchen, es vor allem unter Bezugnahme auf bereits existierende Überlegungen zu betrachten, man kann darüber mehr oder weniger abstrakt nachdenken und so weiter und so fort. Deshalb möchte ich vor dem eigentlichen Text die folgenden Punkte erwähnen:

Bestimmt hätte ich für eine verstandesmässige Sicht des Bewusstseins auch einen Text über "Das Bewusstsein; Blick durch die Augen der Neurologie" schreiben können. Aber (abgesehen davon, dass mich der Buddhismus sowieso sehr interessiert) ich will nicht nur "kalte" Fakten zusammenstellen, aus denen man für die Sicht des Lebens nichts gewinnen kann, sondern interessiere mich für etwas "Ganzes", zusammengesetzt aus dem logischem Verstehen, der Weltanschauung und dem gewissen Etwas, das noch dazu kommt - alle die drei Teile finde ich beim Buddhismus, den letzten davon in jenem Bereich des Buddhismus, der sich gerade nicht auf den Verstand stützt.

Der Bewusstseinswandel kommt insofern unter die Lupe, dass erstens beim Aufeinandertreffen zweier verschiedenen Weltanschauungen, zweier Bewusstseinsebenen, die beiden (in unserem Fall das Christentum als die Tradition aus der Autor und Leser wohl stammen) immer auch einen Wandel erfahren, alleine schon aus der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Gegenüber; zweitens gibt es innerhalb des Buddhismus wie schon erwähnt diese zwei scheinbar sehr gegensätzlichen Denkmodelle, das der reinen Logik und das der Irrationalität. Auch beim beidseitigen Übertreten dieser Schwelle geschieht eine Art Bewusstseinswandel.


Weitere vorausgehende Hinweise

Im vorhergehenden Abschnitt erwähnte ich schon, dass sich mir (und vermutlich auch jedem anderen) in philosophischen Texten einige Probleme stellen, die sonst nicht auftauchen. Wichtig: eigentlich ist fast jedes Wort ein kleiner Stolperstein, da philosophisch gesehen kaum je eine klare Definition irgendeines Begriffes möglich ist. Extreme Beispiele wie das Konzept der "Freiheit" sind natürlich aussergewöhnlich vieldeutig, aber es gibt auch weniger "spektakuläre" Fälle.

"Bewusstsein"; welche zwei Menschen könnten sich auch nur auf eine einigermassen übereinstimmende Definition dieses Begriffes einigen? Und jede noch so detaillierte Erläuterung des Wortes würde bestimmt bei weitem nicht alle Facetten seiner Bedeutung umfassen. So würde sicherlich schon der Versuch, diesen Term zu erfassen, Bücher füllen (und er hat es wohl schon getan). Im Text werden ein paar grundsätzliche gemeinsame Nenner des Verständnisses des Wortes "Bewusstsein" vorausgesetzt und dann Schritt für Schritt weitere Facetten, hauptsächlich solche aus der buddhistischen Sicht, hinzugesetzt. Das Problem, mit Begriffen zu arbeiten, die man nie richtig fassen kann (sozusagen mit heissen Kartoffeln, die man nicht richtig in die Hand nehmen kann, zu jonglieren) bleibt - dies ist übrigens eine jener Hürden, die mich beim Schreiben am häufigsten hilflos den Mut sinken lassen machen. Meiner Meinung nach ist sie bei jeder (nicht nur philosophischen) Diskussion vorhanden; versucht man den Begriffen dann ernsthaft nachzugehen gerät man dann oft vom Hundertsten ins Tausendste. Auf der anderen Seite sind Debatten, welche einfach mit allen Konzepten in ihrer nebelhaft-undefinierten Form geführt werden vielleicht sehr pragmatisch und konkret, kranken aber an zwei wichtigen Problemen:

Erstens geraten sie oft aufgrund kleinlicher Einzelheiten ins stocken, zweitens (wichtiger) laufen sie meiner Meinung nach der menschlichen Natur zuwider, welche von einer unersättlichen Neugier geprägt ist, einer Neugier, die viel weiter geht als die Frage "Wie löse ich jenes akute Problem?", die aber leider fast immer von der Masse all der akuten Probleme umnebelt den Blick auf die echten Fragen verliert. (Worüber man wohl insgeheim häufig froh ist, denn konkrete, akute Probleme lassen sich besser lösen als die wirklichen, tiefen Fragen - aber ich gerate hier wie schon befürchtet in ein anderes philosophisches Feld und muss den Diskurs leider abbrechen)

Aus solchen Überlegungen rührt zum Teil auch meine Vorsicht mit endgültigen Aussagen. Obwohl es natürlich sinnlos wäre, einen Text zu schreiben, zu dem man am nächsten Tag nicht mehr stehen kann (wäre es das?), muss ich zugeben, dass keiner meiner Gedanken im Text als endgültig anzusehen ist (dies bezieht sich vor allem auf den letzten Abschnitt). Erstens wälzen viele von ihnen tagtäglich, stundstündlich manche, in meinem Kopf umher, und ändern sich entsprechend oft: zweitens sind viele Ideen - wenn man sich auf einem relativ abstrakten Niveau bewegt - nur schwer in Worte zu fassen, das heisst sie kommen wohl häufig etwas verkehrt beim Leser an.

(Zum Problem der endgültigen Aussagen; ich sage mir immer: Ich bin jederzeit bereit, von Morgen an nicht mehr über die Strasse zu gehen sondern zu schweben, wenn ich heute einen Apfel aufwärts fallen sehe)

(Zum Problem, dass die Sprache manchmal nicht ausreicht, um eine Idee zu transportieren, gibt es am Anfang von Kapitel 4 einen kleinen Abschnitt, deshalb hier nichts weiteres darüber)

(Grundsätzlich zu dieser Einleitung; sie erklärt und entschuldigt vielleicht mit all den erwähnten Problemen etwas die häufige Verwendung von Klammern und Anführungszeichen, die häufigen Einschübe und kleinen Exkurse, die überall im Text auftreten und diesen stellenweise etwas chaotisch erscheinen lassen - hoffen wir, dass es wenigstens ein kreatives Chaos ist)

Um nochmal den kleinen Vergleich von vorhin zu bemühen: unsere Rucksäcke sind also gepackt und die Wanderschuhe gebunden, machen wir uns auf den Weg, zumindest einen Teil dieses Berges Buddhismus zu erklimmen. Hoffentlich entdecken wir auch einige interessante "Aussichten" auf dem Weg!


Teil 2: Die Buddhistische Art des Denkens; "Das dritte Bewusstsein"

Wissen? Glauben? Erkennen?

"Buddha ist Hundescheisse." (van de Wetering, 1996, S.130)

Was auf den ersten Blick wie plumpe Blasphemie wirkt, ist in Wirklichkeit ein Zen-Sprichwort - zumindest lässt der niederländische Autor Janwillem van de Wetering, der selber Zen praktiziert, einen buddhistischen Mönch diesen Satz in einem seiner Stücke sagen. Einen christlichen (oder zumindest in christlichem Umfeld aufgewachsenen) Menschen wird eine solche Aussage vermutlich ziemlich erschrecken. Denn wo ihm (dem Christen) nicht einmal erlaubt ist, an der unbefleckten Empfängnis zu zweifeln, kann doch ein Buddhist nicht seinen "Gott" (In Anführungs- und Schlusszeichen!) so unverschämt angreifen!

Und selbstverständlich ist jener obige Satz auch nicht als ernsthafter Angriff auf Buddha gemeint, aber ich finde, er illustriert sehr anschaulich die zwei Aspekte des Buddhistischen Denkens, die mich am meisten faszinieren. Sie sind voneinander sehr verschieden, und wie es gelang, sie zusammen unter einen Hut zu bringen, ist schwer zu beschreiben, aber im Buddhismus gehören sie doch irgendwie zueinander, bilden ein Ganzes. Sie dulden sich nicht nur, sondern bedingen sich gar gegenseitig;

Die eigenartige Orientierungslosigkeit, die einem befällt, wenn man den Satz liest, dieser Schritt, ein bisschen über die Grenzen des normalen Denkens hinauszugehen, ist mir immer wieder begegnet bei meiner Beschäftigung mit dem Buddhismus - wenn auch manchmal zwischen den Zeilen. Natürlich werden solche - ich nenne sie mal etwas sehr dem Trend gemäss: "meta-rationellen" Gedanken speziell im Zen-Buddhismus behandelt, aber auch an anderen Stellen in den Texten spürte ich etwas davon; So hat nach Buddhas Lehre jeder Mensch die Fähigkeit dazu, selber ein Buddha zu werden und die endgültige Wahrheit zu erkennen, und doch weis der "normale" Buddhist (also der, der nicht gerade den Rang eines Lamas innehat), dass er in seinem momentanen Zustand noch ein weitgehend irregeleitetes, verlorenes Individuum ist, absolut bedeutungslos im unendlichen Universum. Woher also soll so ein kleines, unwichtiges Wesen erkennen, ob der einleitende Satz, ob überhaupt irgendeine Aussage wirklich wahr ist oder nicht? Gibt es für so ein verschollenes Wesen eindeutige Bezugspunkte, an denen es sich orientieren kann? Nun, wenn es sie gibt, dann bestimmt nur ausserhalb seines engen, eingeschränkten Bewusstseins. Um also Wirkliches erkennen zu können, muss man aus diesen Fesseln ausbrechen - man kann sie unter anderem dadurch sprengen, dass man liebgewonnene, verkrustete Ansichten plötzlich in Frage stellt ("Ist Buddha denn nicht rein und erleuchtet?", "Nein, er ist Hundescheisse."), oder auch zum Beispiel durch Meditation oder durch das Nachsinnen über "sinnleere" Koans. Ich möchte jetzt nicht den Grund dafür zu erläutern versuchen, weshalb die Menschen in aller Welt und zu jeder Zeit Religionen gegründet und sich unter deren Dach versammelt haben - ich wage noch nicht einmal, mir vorzustellen, wieviele kluge Männer (und Frauen) das schon versucht haben, aber es ist bestimmt nicht allzu falsch, wenn ich als einen der wichtigsten Faktoren den annehme, dass der Mensch schon immer vor Fragen gestanden ist, die er nicht beantworten konnte - der Urmensch verstand das Feuer nicht, die Römer staunten über das Wetter und in der heutigen Zeit gähnt vielen Menschen die Frage nach dem Sinn (nach keinem spezifischen Sinn - einfach nach dem Sinn im Allgemeinen) ins Gesicht. Vermutlich lag also eine grosse Motivation, sich einen Gott, einen schützenden, allwissenden Vater zu erschaffen, darin, diese unbeantworteten Fragen an ihn weiterzugeben, das heisst, Antworten auf ihn zu projizieren und so einiger Sorgen entledigt zu sein.

Sah der alte Wikinger einen Blitz, so erklärte er sich dieses Phänomen eben damit, dass Thor wieder einmal seinen Hammer geschwungen habe. Wenn "Gott" sagt, man solle eine Familie gründen, dann tut man es eben so. All das endlose Hinterfragen hat sofort ein Ende, wenn man zu der Bibel (oder zu einer anderen religiösen Schrift) greift und sich dort die Antworten herausliest. Man muss "nur" an sie glauben.

Der Buddhismus (und weshalb er sich so entwickelt hat und nicht anders, ist eine Frage, die über meinen Wissensstand hinausgeht) nahm und nimmt einen anderen Weg. Es gibt in ihm zwar auch viele Grund- und Lehrsätze, auch er verspricht den Religionsanhängern ("Gläubige" wäre aus verständlichen Gründen der falsche Term, auch wenn ich ihn anderswo mangels Alternativen vielleicht verwende) bestimmte Konsequenzen auf bestimmte Taten, aber nichts soll bloss geglaubt, alles soll hinterfragt und erkannt, im Extremfall verworfen werden; "Folglich ermahnt Buddha persönlich seine Schüler ganz eindringlich, nur das zu glauben, was sie selber durch eigene Bemühung erfahren und als richtig erkannt haben. Und er warnt sie ebenso eindringlich davor, auch seinen eigenen Worten und Lehren Glauben zu schenken, nur weil sie von ihm seien..." (Stangl, 1993, S.16)

Ganz besonders kommt dieser immer reflektierende, aktiv (mit-)denkende Umgang mit den alten Texten zum Vorschein, wenn man sich die buddhistische "Theorie der Interpretation eines Textes" ansieht. Buddha selbst hat hierzu vier Grundregeln angeführt, die ich nur zusammenfassend wiedergebe:

1. Stütze dich nicht auf den Autor, stütze dich auf den Text (die Lehre)

2. Stütze dich nicht auf die Worte, stütze dich auf die Bedeutung

3. Stütze dich nicht auf die zu interpretierende, sondern auf die endgültige Bedeutung

4. Stütze dich nicht auf das gewöhnliche Bewusstsein, sondern auf die Ursprüngliche Weisheit

(Dalai Lama, 1993, S.23)

Aus diesen Regeln wird nicht nur ersichtlich, wie konsequent das Hinterfragen und der Intellekt im Buddhismus gefördert (und gefordert) werden; sie sind auch in sich selbst ein Beispiel für das Erfassen der Gedankengänge und Ideen mittels logischer Schlüsse und klarer Strukturen, die im Buddhismus eine so prägende Stellung einnehmen.

(In der letzten Regel erkennen wir die skeptische Haltung gegenüber dem allzuleicht zu täuschenden Bewusstsein - ein immer wiederkehrender Grundsatz. Interessant ist dabei, dass auch in dieser sehr rationalen Einteilung etwas davon anklingt, dass nicht alles mit dem kleinen, menschlichen Bewusstsein, mit dem kleinen, menschlichen Verstand erfasst werden kann. Streng logische Vorgehensweisen, gleichzeitige Skepsis gegenüber dem Verstand - der Januskopf des Buddhismus wird offenbar.)
 

Physik und Kausalität

Das Stichwort "Konsequenz" ist eben schon gefallen - sie (die Konsequenz) ist ein wichtiger Bestandteil des Buddhismus. Alles muss zu Ende gedacht werden, jede Folgerung gezogen und jeder zwingende nächste Schritt gemacht. So ist es einleuchtend, dass nicht nur das Verständnis der alten Texte einer strengen logischen Prüfung unterzogen wird, sondern auch das Verständnis der Welt, der Wirklichkeit überhaupt. Genauer gesagt bildet diese Untersuchung der Wirklichkeit eigentlich erst die Grundlage des Buddhismus. Meditieren, alte Lehren nachvollziehen, erleuchtet werden; all das dient alleine dazu, die Welt immer noch etwas genauer, noch etwas ungetrübter zu erkennen. Das schlussendliche Ziel eines Buddhisten, nämlich das Einfliessen in das Nirvana, ist nur zu erreichen, wenn man Allwissenheit erlangt. Und ist Allwissenheit auch ein übertrieben hohes Ziel, so ist mir doch dieses Streben nach Erkenntnis und dieses Prinzip, auf der ewigen Suche nach Erkenntnis immer am Verstande festzuhalten, sehr nahe.

Im Christentum (das ich nur deshalb immer als Gegenbeispiel hinzuziehe, weil ich mich mit ihm noch am besten von all den anderen Religionen auskenne (und übrigens auch mit ihm nicht besonders gut)) dagegen besteht das Ziel allen Seins darin, ein guter Mensch zu sein und somit beim letzten Gericht in den Himmel zu kommen. Dazu muss man keine endgültigen, nicht einmal provisorische Wahrheiten erkennen. Man schliesst die Augen und glaubt - sehr übertrieben dargestellt.

Die Suche nach Wahrheit erstreckt sich wie erwähnt - konsequenterweise - über das Interpretieren der alten Texte hinaus. Wissenschaftliche Erkenntnisse, auch neueren und neuesten Datums, werden diskutiert und überprüft. Lama Govinda weist dann auch darauf hin, dass sich Religionen immer wieder erneuern und aktuellen Fragen widmen und anpassen sollen, er formuliert es so, dass manch eine Weisheit, die früher Geltung hatte, heute "(...) für den religiös strebenden Menschen der Gegenwart ebenso unwichtig ist wie für einen Erwachsenen die Vorstellungen von seiner frühen Kindheit." (Govinda, 1995, S.18)

Eine der wichtigsten Grundlagen des Buddhismus bildet zum Beispiel das Kausalitätsgesetz von Ursache und Wirkung. Der ganze Daseinskreislauf, in dem die Seele durch schlechte Taten schlechtes, und durch gute Taten gutes Karma auf sich lädt (auch hier vereinfache ich, notgedrungen zum Teil weil die Karmalehre zu komplex ist, als dass ich sie wirklich verstehen könnte, andererseits bewusst, weil auch die vereinfachte Aussage nicht "falsch" ist), welches dann später über die Art ihrer Wiedergeburt bestimmt, ist nur denkbar, wenn man von diesem Gesetz ausgeht. Alles, was passiert, hat seinen Grund; wie sonst sollte sich ein blind zur Welt gekommener Buddhist erklären, dass das "Schicksal" ihn so hart bestraft hat, wenn nicht damit, dass er in früheren Leben schlechte Taten angesammelt hat, die er jetzt wiedergutmachen muss. (Hier möchte ich einmal darauf hinweisen, dass nicht alles, was ich hier an buddhistischen Gedanken wiedergebe, unbedingt auch meine Meinung ist - auch wenn die Satzkonstruktionen es vielleicht manchmal vermuten lassen)

Der Dalai Lama gibt unglücklichen Menschen den Rat, sich folgendes zu überlegen: "Möge mein gegenwärtiges Leid dazu führen, dass viele der schlechten Taten, die ich in der Vergangenheit (Anm.: Dies kann natürlich auch in einem früheren Leben gewesen sein!) angesammelt habe, ihre Wirkungsweise verlieren." (Dalai Lama, 1993, S.124)

(Hier sollte eigentlich ein kleiner Exkurs zum Kausalitätsgesetz und zu der Rationalität stehen. Er ist schliesslich zu lang geworden, so dass ich ihn an das Ende dieses Kapitels angehängt habe - allerdings sollte man ihn schon im Zusammenhang lesen, so dass es das Beste wäre, jetzt kurz umzublättern, den Exkurs zu lesen und dann hier weiterzufahren:)

Der Buddhismus befasst sich auch mit den Problemen der Materie und der Zeit, er findet sich in den Erkenntnissen der jüngeren Wissenschaft sogar oft bestätigt, was eine weitere Kernaussage angeht; die Nichtexistenz der inhärenten Existenz. Dadurch, dass die Physik in den letzten Jahren und Jahrzehnten das Atom immer weiter in immer kleinere Teile zerstückeln konnte, bewegt sie sich auf dem selben Pfad, den buddhistische Denker schon seit hunderten von Jahren gegangen sind. Rein verstandesmässig haben sie erkannt, dass man jedes noch so kleine Objekt wieder in seine Einzelteile spalten kann, so dass man am Ende eingestehen muss, dass eigentlich gar nichts mehr übrigbleibt, was wirkliche Existenz aufweist. Diese Untersuchungen, die mich ungemein faszinieren, erklärt der Dalai Lama noch etwas eingehender. (Dalai Lama, 1993, S.260)

Schon alleine daran, dass der wichtigste Religionsführer in seiner "Einführung in den Buddhismus" solche Themen anspricht, lässt sich erkennen, dass der Buddhismus der Wissenschaft und Logik sehr verbunden ist - und auch aktuell verbunden bleibt.


Der Weg, das Ziel, die Welt

Das Bewusstsein ist kein richtungsloses Phänomen. Im Gegenteil, sein Zustreben auf ein Ziel, sein Ausgerichtetsein auf bestimmte Faktoren und Abgewendetsein von anderen sind meiner Meinung nach wichtige Merkmale, um es genauer zu erkennen. So wird zum Beispiel ein Bewusstsein, das schlechter Laune ist, auf ein lärmendes, spielendes Kind anders reagieren als eines, das guter Laune ist. Das eine ist gerichtet auf (d.h.: wünscht sich) Ruhe und Einsamkeit, das andere auf Kontakt mit anderen. Das Bewusstsein ist eben nicht nur ein passiver Zuschauer "in unseren Köpfen", es ist selber aktiv, drängt zu diesem hin und von jenem weg. Nur der, der kein Bewusstsein hat wie der Stein, nur dieser hat auch kein Ziel, auf das er gerichtet ist.

Dies gilt aber nicht nur für banale Beispiele wie das obige, bei dem das Ausgerichtetsein auch nur von kurzer Dauer ist. Wichtiger ist es, solche Zielsetzungen (das Wort ist hier im weitesten Sinne zu verstehen) in der Spanne eines ganzen Lebens zu erkennen. Auf das Bewusstsein des gläubigen Christen, der sein oberstes Ziel darin sieht, in den Himmel zu kommen, wirkt der Anblick eines Marienbildes anders als auf das eines Hindu. Es ist also, um über das buddhistische Bewusstsein genauere Erkenntnisse zu gewinnen, wichtig, die Richtung zu kennen, in die das Bewusstsein "des Buddhisten" gewendet ist.

Das endgültige Ziel des Buddhisten ist, wie schon einmal kurz erwähnt wurde, das Aufgehen seines Ichs, seiner "Seele" im Nirvana. Weniger interessant sind die spezifischen Vorgänge, die sich dabei vollziehen, sondern die Gedanken, die den Gläubigen lenken, wenn er versucht, dem Daseinskreislauf zu entkommen. Dies sind natürlich nicht nur reine emotionale "Push- und Pullfaktoren", sondern sie bestimmen auch generell, wie ein Mensch zu seiner Umwelt steht. Da dies, die Weltanschauung einer Religion, ein riesiges Thema ist, möchte ich nur einige Punkte erwähnen, die mich besonders beeindruckt haben;

Das Konzept des Daseinskreislaufes beeinflusst den Buddhisten nicht nur insofern, dass er möglichst sein schlechtes Karma abbauen will, um nicht als niederes Lebewesen geboren zu werden, sondern auch darin, dass - und ich persönlich finde, dass dies eine der wunderbarsten Vorstellungen dieser Religion ist - ein jedes Wesen in der Welt in sich eine Seele trägt, die schon viele andere Wesen bewohnt hat, die vermutlich auch schon vorher einmal ein Mensch gewesen ist, vielleicht gar jemand, den man gekannt hat. Beim Bau einer Siedlung im Exil in Indien zum Beispiel tauchte das Problem auf, dass "um Ackerland zu gewinnen, zahllose kleine Tiere und Insekten getötet wurden. Das war für Buddhisten eine schreckliche Tat, da für uns nicht nur das menschliche Leben, sondern jede Form von Leben heilig ist." (Dalai Lama, 1990, S. 254/255). Ich habe auch gehört, dass Buddhisten beim Kehren oder beim Waschen von Salat besondere Sorgfalt walten lassen - die Seele jedes Wurmes, den man aus Achtlosigkeit töten könnte, könnte ein Mitglied der eigenen Familie gewesen sein. (Übrigens bin ich in diesem Zusammenhang über einen komischen Widerspruch gestolpert: Buddhisten sind nicht zwangsläufig Vegetarier. Sie sind aber nie Metzger - in Tibet haben immer Menschen ausländischer Herkunft diese Arbeit übernommen. Gleichzeitig sagt aber der Dalai Lama: "Wenn ein hoher General (...) den eigentlichen Befehl zum Krieg gibt, sammelt er alle schlechten Taten des Tötens an, die in diesem Krieg durch seinen Befehl geschehen, selbst wenn er nicht physisch an der Durchführung der Handlungen betätigt ist." (Dalai Lama, 1990, S. 73) Egal also, ob ein Buddhist ein Tier selber schlachtet oder nur das Fleisch kauft, sein Karma belastet er in beiden Fällen gleich schwer - weshalb dann gibt es keine tibetischen Metzger? Vermutlich hängt es mit weiteren, mir unbekannten Faktoren zusammen, aber von meinem Wissensstand aus gesehen ist diese Frage nicht beantwortet.)

Der fundamentale Respekt vor allem Lebenden, der aus diesen Gedanken resultiert, ist wohl eine der schönsten Seiten des Buddhismus (und eine von denen, die mich am meisten beeinflussen - eine Mücke zu erschlagen, die mich um zwei Uhr Nachts nicht schlafen lässt wirft mich in grosse Gewissenskonflikte; wie oft habe ich zu unmenschlicher Zeit versucht, ein Insekt mit Licht aus meinem Zimmer zu locken).

So gab es ja auch nie grössere Anstrengungen, diese Religion anderen aufzuzwingen. Leben und Leben lassen; es ist bestimmt kein Zufall, dass mit dem Dalai Lama und mit Ghandi zwei der wichtigsten Vertreter des Pazifismus aus einem vom Buddhismus geprägten Kulturkreis stammen (oder gar selber Buddhisten sind). Beide waren (oder sind) sie Vertreter von unterdrückten Völkern und beide haben sie niemals daran gedacht, auch gegen ihre schlimmsten Peiniger die Waffen erheben zu lassen.

Bemerkenswert dabei ist auch, dass diese Friedfertigkeit, so lobenswert sie auch ist, schlussendlich eigentlich auch auf verstandesmässigen Motiven beruht (wobei ich natürlich keine Sekunde daran zweifle, dass dies den Menschen nicht bewusst ist und von ihnen auch nicht so eigennützig empfunden wird): man will kein schlechtes Karma anhäufen, man will vermeiden, verstorbenen Freunden zu schaden. Der Rationalismus lässt sich überall erkennen, so auch bei einem weiteren Ausspruch des Dalai Lamas: "Da wir Menschen ein Teil der Natur sind, ist es sinnlos, wenn wir uns gegen sie richten, weshalb ich auch behaupte, dass Umweltschutz keine Frage der Religion, der Ethik oder der Moral ist. Dergleichen ist Luxus, da wir auch ohne sie überleben können." (Dalai Lama, 1990, S.395) Wo gerade beim Thema Umweltschutz das logische Denken immer wieder beschimpft wird, als "kalt" und "unmenschlich" bezeichnet, spricht mir dieser Satz aus dem Herzen: man kann gar nicht rational genug denken; denn nur dann, wenn man dies tut, wird man die richtigen Entscheidungen treffen, und die sind alles andere als unmenschlich (darauf komme ich auch im kleinen Exkurs am Ende des Kapitels zu sprechen).

Noch ein wichtiger Punkt der Weltsicht des Buddhisten scheint mir die Ablehnung der Dualität zu sein, der unser christliches Denken zugrunde liegt. Es gibt kein "Schön" ohne ein "Hässlich", kein "Klein" ohne ein "Gross". Wir Menschen sind nicht in der Lage, ein Ding nicht nach seinem Verhältnis zu anderen Dingen zu beurteilen. Wir fragen uns sofort: "Wie kann mir dieses Objekt nützlich sein?" oder "Ist dies besser als das?".

"Diese Dualität hindert uns am erkennendes Urgrunds des Seins, der unseren Sinnen verborgen ist." (Stangl, 1993, S. 38) Der Buddhist versucht also im Gegensatz zu den anderen Menschen, ein Ding immer einfach "an sich" zu betrachten. Dazu muss man eigentlich fast alle Adjektive über Bord werfen, denn die meisten davon sind nur beim Vergleich sinnvoll. Wie lange ist "lang"? Man kann es nicht sagen, man weis nur, dass es länger ist als "kurz". Wie frei ist "frei"? Bestimmt freier als "unfrei", aber genauer kann man es schwerlich definieren. Wer die Dinge mit solchen Vorstellungen zu fassen versucht, hat nirgends festen Stand, hat nicht das wahre Wesen der Dinge erfasst.

"Die Welt erscheint uns als ein Spannungsfeld von Polaritäten, die uns zunächst als Gegensätzlichkeiten erscheinen, wie zum Beispiel Licht und Dunkel, Nähe und Ferne, Kälte und Wärme (...). Vielmehr geht es darum, die schöpferische Mitte in diesem Spannungsfeld zu gewinnen, um so das Zusammenwirken der Gegenstände zu bewerkstelligen, das sich aus ihrer von vornherein bestehenden, gegenseitig einander bedingenden Beziehungen und Abhängigkeiten ergibt." (Govinda, 1995, S.71) sagt Lama Govinda, und erinnert dabei auch an den achtfachen Pfad, mit dem die Erleuchtung erreicht werden kann - auch der mittlere (!) Weg genannt.


Lao-Tse

Damit komme ich zum letzten "offiziellen" Abschnitt des Kapitels, der zugegebenermassen gar nicht hierhin passt, deswegen ist er auch sehr kurz. Es geht um die Lehren des Lao-Tse, die wohl einen Einfluss auf den Buddhismus gehabt haben, sei es auch nur indirekt, die mir aber in jedem Falle zu gut gefallen haben, um sie einfach "aussen vorzulassen".

Zumindest betreffend des letzten Punktes, der Dualität, gibt es auch bei Lao-Tse einige Gedanken:

"Denn:

Sein und Nichtsein erzeugen einander,

Schwer und Leicht bedingen einander,

Lang und Kurz vermessen einander,

Hoch und Tief entstreben einander,

Ton und Stimme sich fügen ineinander,

Vorher und Nachher folgen einander.

Darum der Weise:

Er beharrt im Tun des Nicht-Tun

und lebt die wortlose Lehre." (Lao-Tse, K. 2)

Ich meinen Augen bricht der Weise also die Fesseln der Dualität auf, indem er zugleich tut und nicht-tut, indem er einer Lehre folgt, die wortlos ist (auch das ein vermeintlicher Widerspruch), indem er die Gegensätze vereint; er kann so die eigentliche Wahrheit blicken - Lao-Tse handelt also ähnlich wie der Buddhist.

Auch anderorts ist der Buddhismus dem Taoismus nahe: "Das rechte Bemühen wird beschrieben als die stetige Anstrengung in der "Bewachung der Sinnestore"." (Stangl, 1993, S. 94) schreibt Anton Stangl über den Buddhismus. Lao-Tse sagt:

"Man schliesse seine Sinnespforten

und zügele den Rededrang,

sinkt der Leib dahin, bleibt man ohne Sorge." (Lao-Tse, K. 52) und fast dasselbe noch einmal in Kapitel 56. Der Taoismus vertraut zwar viel stärker auf die Wirklichkeit dieser Welt, aber auch Lao-Tse warnt vor den Täuschungen, denen die Sinne und der unachtsame Geist ausgesetzt sind.

Neben all den Unterschieden in den Vorstellungen des Buddhismus und des Taoismus sind meiner Meinung nach immer wieder Übereinstimmungen festzustellen - nicht immer solche eindeutigen wie die oben beschriebenen, eher solche, die man zwischen den Zeilen liest. Dieses Gefühl, dass sich Rationalismus und etwas schwer fassbares, jenseits des Verstandes liegendes zu einer harmonischen Einheit ergänzen, zu einem (neben dem rationellen und dem mystischen) dritten Bewusstsein, hatte ich sowohl beim Buddhismus als auch bei Lao-Tse.


Exkurs zum Kausalitätgesetz:

Man könnte nun beim Beispiel des Kausalitätsgesetzes einwenden, es sei eine überholte Überlegung. Allerdings können Theorien wie die Heisenbergsche Unschärferelation oder die Planksche Quantentheorie es höchstens einschränken, denn erstens haben solche "Zufälligkeiten" innerhalb der Atome auf unser tägliches Leben keinen Einfluss und zweitens gibt es vermutlich auch für solche Phänomene eine Erklärung, die wir nur noch nicht kennen. Dazu Anton Stangl: "Auch Fritjof Capra betont, dass atomares Geschehen nicht willkürlich von sich gehe, sondern dass es nur nicht durch lokale Ursachen in Gang gebracht werde, sondern durch nichtlokale Zusammenhänge, die wir nicht genau kennen. (...) Im normalen Leben ist diese Einschränkung des Kausalitätsprinzips absolut bedeutungslos." (Stangl, 1993, S.112)

Ich persönlich bin offen für alle Überlegungen, die Alternativen zum Kausalitätsprinzip vorstellen. Aber ich halte es für sinnlos, es einfach zu verneinen, weil es einem zu "kalt" und "rational" vorkommt. Es wäre nämlich pure Vernunft überhaupt keine Bedrohung für die Menschlichkeit, wie so oft behauptet wird. Im Gegenteil. Ein streng logisch denkender Mensch (den es in dieser Form nicht gibt - niemand denkt streng logisch), den ich der kürze halber (und in Anlehnung an eine Fernsehserie) "Speck" nennen will, würde zum Beispiel niemals auf rassistische Gedanken kommen - Speck weis, dass wir Menschen alle sehr nahe verwandt sind, Aussagen wie "alle Schweizer sind geizig" oder "alle Italiener sind faul" könnte man höchstens vom soziologischen Standpunkt aus vernunftmässig zu beweisen versuchen - und selbst im unwahrscheinlichen Falle eines solchen Beweises wüsste Speck ja, dass niemand sich seine soziale "Prägung" ausgesucht hat.

Weiterhin hört man oft, dass die Wissenschaft und die pure Ratio immer mehr die Umwelt zugrunde richten - auch hier wäre meiner Meinung nach das Gegenteil der Fall, wenn die Menschen wirklich streng logisch denken würden. Speck fährt nicht jeden Morgen mit dem Auto zur Arbeit - denn er kann sich die negativen Konsequenzen, die die Abgase eines Tages auf das Leben seiner Kinder haben werden, sehr gut ausrechnen - und Speck kennt auch das Argument "wenn nur ich auf XY verzichte, bringt es nichts, ich bin ja nur ein Einzelner unter Tausenden!" nicht, denn es ist ja beim besten Willen nicht logisch.

Ein Problem jedoch stellte sich Speck und mir, und ich hatte bisher keine klare Antwort darauf gefunden: Der Vernunft nach sind wir alle ein Teil der Natur. Folglich sollten wir uns so weit wie möglich auch so verhalten, wie die Natur es vorgesehen hat. Nicht aus romantischen oder "esoterischen" Gründen, sondern aus logischen: wir sind die Natur und wir sind in der Natur, wenn wir also nach Massstäben für unser Verhalten suchen, wie könnten sie ausserhalb von all dem liegen, was uns definiert und ausmacht - ausserhalb der Natur?

Sollten wir uns aber - der Logik nach - nach den Gesetzen der Natur verhalten, so müssten wir das "Recht des Stärkeren", das "Fressen und gefressen werden" als die vernünftige Verhaltensweise folgern, denn so macht die Natur es uns überall vor (das dachte ich bisher!). Gleichzeitig sagt uns die Ratio, dass jeder von uns vor dem grossen Universum so unwichtig ist, dass es töricht wäre, sich über die anderen zu stellen. Dass wir Dinge wie "Wahrheit", "Gerechtigkeit" oder "Schuld" niemals eindeutig erkennen können werden, wir uns also auch nicht erdreisten dürfen, uns irgendein "Recht" auf irgendetwas herauszunehmen.

Ich habe aber nun vor kurzem ein Buch entdeckt und gelesen, welches genau dieser Frage nachgeht, der Frage nach den Denkfehlern im Darwinismus, der Frage danach, weshalb wir Menschen eben nicht einfach das Recht des Stärkeren anwenden sollten. Frans De Waal beginnt das erste Kapitel dieses seines Buches ("Der gute Affe") mit einem Zitat von Stephen Jay Gould: "Warum sollten unsere Niedertracht die Bürde einer Vergangenheit als Affen und unsere Gutartigkeit eine einzig dem Menschen eigene Eigenschaft sein? Warum sollten wie nicht auch, was unsere "edlen" Charakterzüge betrifft, nach einer Kontinuität mit anderen Tieren suchen?" (De Waal, 1997, S.15)

De Waal geht dann sehr genau darauf ein, welche Eigenschaften wir von unseren Vorfahren geerbt haben und weshalb der "gute Affe" und der Mensch diese Eigenschaften entwickelt haben. Er bemerkt, dass die Natur uns eben nicht überall den nackten Überlebenskampf vorführt. Mit logischem Nachforschen versucht er also, den Ursprüngen und Gründen unserer Moral und Ethik auf die Spur zu kommen. Bestimmt ist in dieser Hinsicht noch viel zu entdecken.

Auch wenn De Waal die Grenze zwischen Tier und Mensch relativiert, stellen meiner Meinung nach solche und ähnliche Probleme die Zwickmühlen dar, in die wir Menschen hineingestolpert sind, als wir den Schritt vom Tier zum Menschen gemacht haben. Denn je tiefgründiger man nachdenken kann (der Mensch denkt (vermutlich) tiefgründiger als der Affe, aber auch der Philosophierende tiefgründiger als der Verdrängende), um so verzwickter sind auch die Widersprüche und Paradoxa, auf die man trifft.

Ein weiteres weites Feld tut sich vor uns auf, und ich muss mich in Acht nehmen, nicht darin abzuschweifen - weshalb ich auch diesen Gedankengang hier brutal beende.


Teil 3: Das Bewusstsein durch die Augen des Buddhismus

Der Dalai Lama hat das Wort

Der Dalai Lama wurde im Rahmen eines Vortrages gefragt, ob er "das Bewusstsein" definieren könne: "Die Definition des Bewusstseins ist Klarheit und Erkenntnis; aber das ist nicht einfach zu verstehen. In jedem Fall kann man sagen, dass das Bewusstsein nicht körperlich ist; es hat weder Gestalt noch Farbe. Es ist ähnlich offen wie der Raum, der die blosse Abwesenheit von hindernden Tastobjekten ist. Seiner Natur nach ist es klar und erhellend, und es besitzt die Fähigkeit, jedes Objekt, mit dem es in Kontakt kommt, zu erkennen, indem es dessen Ausprägung wiederspiegelt. (...)" (Dalai Lama, 1993, S. 59/60)

Der erste Aspekt, den er erwähnt, ist vermutlich auch der wichtigste. Alle weiteren Attribute, die der Dalai Lama dem Bewusstsein zuschreibt - und vermutlich überhaupt alle übrigen, mit denen man es zu erklären versuchen könnte - sind nicht so treffend wie die der "Klarheit" und der "Erkenntnis". Ich habe nun schon oft erwähnt, dass die Erkenntnis und die Logik im Buddhismus grosse Rollen spielen, und folglich werden sie auch hier betont. Natürlich ist Klarheit der erste Schritt zur Erkenntnis - deshalb ist auch sie ein Teil des Bewusstseins.

Allerdings ist diese erste Definition auf den ersten Blick etwas problematisch, denn laut den Lehren des Buddhismus sind alle Menschen grundsätzlich bezüglich der Wirklichkeit getäuscht. Teils, weil sie an die inhärente Existenz der Phänomene glauben, teils weil sie die Ursachen des Leidens noch nicht erkannt haben oder auch aus anderen Gründen. Demzufolge wäre das Bewusstsein der Menschen ja nicht klar, und es hätte also auch keine Erkenntnis. Es ist aber so, dass das Bewusstsein korrekt arbeitet; es wird ihm zwar etwas vorgespielt, aber das, was gespielt wird, erkennt es richtig. Man kann es mit einem Theater vergleichen: ich erkenne vielleicht nicht, wer hinter einer Maske steckt, aber ich sehe sehr wohl, wie die Maske aussieht.

Die Natur des Bewusstseins sei aber auch klar und erhellend. Somit ist das Bewusstsein nicht nur ein "Schlund", der Wahrnehmung in sich hineinschluckt, sondern auch selber etwas aktives, handelndes, strahlendes; indem es nämlich Objekte und manchmal auch Wahrheiten erkennt (denn man kann das Bewusstsein ja darauf schulen, hinter die Masken zu sehen, also auch irgendwann z.B. die Nichtexistenz des inhärenten Selbst zu schauen). Damit einhergehend ist auch die Vorstellung des Bewusstseins als Spiegel. Da laut Buddhismus die Objekte ja nicht aus sich heraus existieren, verleiht ihnen erst das sie beobachtende, sie spiegelnde Bewusstsein ihre Merkmale, ihre (immer noch nur scheinbare) Existenz.

Das Bild vom Bewusstsein als (schlussendlicher) Ursprung alles dessen, was uns als äusseres Objekt erscheint, also des ganzen Universums, beschreibt auch Lama Govinda: "Hieraus aber wird deutlich, dass "Wirklichkeit" (Anm.: also: "dass das ganze Universum") weder ein abstraktes Sosein noch ein starres, absolutes Prinzip ist, sondern vielmehr das Wirken des Bewusstseins als einer alles hervorbringenden und alles umfassenden, lebendigen Kraft." (Govinda, 1995, S.67) Er betont dann stark den Schluss, den man aus dieser Feststellung ziehen müsse, nämlich dass man diese selbsterschaffene Welt dann auch selber aktiv formen, sie beeinflussen solle. Wer nämlich den obigen Satz als wahr anerkennt muss eingestehen, "(...) dass wir in einer Welt leben, die wir gewissermassen selbst erschaffen und somit "verdient" haben." (Govinda, 1995, S.131)

Schliesslich kann man schon in dieser Definition (wir sind jetzt wieder beim Satz des Dalai Lama) etwas von der Lehre der Wiedergeburt spüren. Das Bewusstsein ist nämlich "nicht körperlich; es hat weder Gestalt noch Farbe.". Wenn das Bewusstsein also nicht Teil unseres Körpers ist (auch hier scheint mir etwas Widersprüchliches durchzuschimmern; eine der Prinzipien des Buddhismus ist nämlich die Tatsache, dass es kein unabhängiges Ich gibt - vermutlich ist das aber so gemeint, dass das Ich immer abhängig ist von seiner Umwelt, von seinen Sinneseindrücken, nicht, dass das Ich und der Körper eins sind; eigentlich existieren sie beide ja gar nicht inhärent), so muss es auch von ihm unabhängig sein (da stimmt der Buddhismus übrigens mit dem Christentum überein - wo es beim einen eine unabhängige Seele gibt, gibt es beim anderen ein unabhängiges Bewusstsein). Wenn nun aber das Bewusstsein unabhängig vom Körper ist, so kann es auch nicht mit ihm stehen und fallen - obwohl es durchaus manchmal ein Knecht seiner Zustände ist - es kann, um auf den Punkt zu kommen, eben nicht sterben, nicht vergehen.

Dieser Aspekt der buddhistischen Lehren - das Selbst, das Ich und dessen Abhängigkeiten und Freiheiten vom Körper und von der Umwelt - muss wohl einer der am schwersten zu verstehenden sein. Einige der Probleme haben sich zumindest in meinen Augen etwas aufgelöst, als ich vom Konzept des subtilen Bewusstseins las. Es ist dies nämlich "etwas, das die subtilste Kraft hat, andere Bewusstseinszustände als Entitäten von Klarheit und Erkenntnis hervorzubringen. (...) Es ist dieses subtilste Bewusstsein, was in eine neue Existenz übergeht; die gröberen Bewusstseinsebenen (Anm.: Welche dann eben nur die Masken der Wahrheiten sehen und von allen möglichen Täuschungen abhängig sind wie eine Marionette von ihren Fäden) können sich nicht weiter über den Tod hinaus fortsetzen. Doch im subtilsten Geist sind Samen enthalten, aus denen wieder gröbere Bewusstseinsebenen entstehen können." (Dalai Lama, 1993, S. 145)

Hier haben wir nebenbei eine weitere Funktion, nein, eher einen weiteren Teil des Bewusstseins isoliert: das subtile Bewusstsein als Raupe, aus der bei jeder Wiedergeburt wieder ein ganzer Schmetterling wird (Wobei hier der Schmetterling und die Raupe nicht mit den typischen schön-hässlich, gut-schlecht Etiketten assoziiert werden dürfen, es ist nämlich eher so, dass das subtile Bewusstsein (die Raupe) mit seinen Charakteristika höher einzuschätzen wäre als das grobe (der Schmetterling)).


Religiöse Konzepte

Damit treten wir von der Definition des Dalai Lama, die wohl auch einfach die Definition eines sehr klugen, aber nicht unbedingt religiösen Menschen hätte sein können, endgültig in die Gedankenwelt des Buddhismus über. Denn dadurch, dass wir das Bewusstsein (oder die Seele, die beiden Terme sind meiner Meinung nach bezüglich der Wiedergeburt austauschbar - ich weis zwar, dass die Buddhisten die Existenz einer Seele leugnen, aber ich finde, um so abstrakte Begriffe zu fassen, muss man sich halt der Terme bedienen, die ihnen noch am nächsten kommen - schon alleine der Bequemlichkeit wegen) als unsterblich annehmen, erkennen wir eine weitere wichtige Qualität des Bewusstseins; es ist der Träger unseres Karmas.

Wie erwähnt nehmen wir ja unsere guten und schlechten Taten mit ins nächste Leben. "Wir", das ist unser Bewusstsein, und dasselbe ist es auch, welches dieses "Karmakonto" auf sich trägt. Es ist eigentlich (es ist mir bewusst, dass ich etwas allzuhäufig bildliche Vergleiche anwende) wie mit dem Weihnachtsmann, der in seinem Buch alle guten und schlechten Taten festhält. Das Bewusstsein hat nach buddhistischer Ansicht auch die Funktion eines solchen Buches.

Wir sind nun beim Thema des Daseinskreislaufes angelangt. Dieser Kreislauf ist nun ja nicht ewig, sondern es gibt einen Weg, aus ihm auszubrechen (auf dessen verflochtene Einzelheiten ich natürlich nicht näher eingehe). Kurz gesagt, um ins Nirvana zu gelangen, muss man Allwissenheit erlangen, man muss seine die Buddhaschaft verwirklichen. Dazu muss man sich in den Wahrheitskörper eines Buddhas wandeln. Und dazu wiederum muss man eine Buddha-Natur in sich tragen.

"Im System der Schule des mittleren Weges wird die Buddha-Veranlagung allgemein als das bestimmt, was die Eignung besitzt, in einen Buddha-Körper umgewandelt zu werden, wenn eine solche Umwandlung betrieben wird." (Dalai Lama, 1993, S.133)

Es geht grundsätzlich darum, die Wahrheit zu erkennen, wie sie wirklich ist. Man wird dann von allen Leidenschaften und den drei Wurzelleiden befreit und folglich keine schlechten Taten mehr begehen, d.h. kein schlechtes Karma mehr auf sich laden. Somit wird man nicht wiedergeboren, man bricht aus dem Kreis des Leidens aus und wird zum Buddha. Man kann sich also die Buddha-Natur durchaus als einen Samen vorstellen, der in einem steckt. Irgendwann einmal wird er erblühen und verwirklicht werden. Und diese Buddha-Natur hat ihren Sitz eben auch im Bewusstsein, denn Objekte wie etwa Steine haben weder das eine noch das andere.


Weitere Ansichten

Dass das Bewusstsein etwas ist, das man nur schwer richtig erfassen kann, wird auch dann deutlich, wenn man sieht, wieviele verschiedene Einteilungen und Formen die Vorstellung des Bewusstseins im Buddhismus hat. So gibt es zum Beispiel die Einteilung in Bewusstsein, das sein Objekt versteht und Bewusstsein, das sein Objekt nicht versteht. Eine weitere Einteilung ist die in die sieben Arten von Gewahrsein und Erkenntnis: unmittelbar wahrnehmende gültige Erkenntnis, schlussfolgernde gültige Erkenntnis, nachfolgende Erkenntnis, korrekte Vermutung, unaufmerksames Gewahrsein, Zweifel und verkehrtes Bewusstsein.

Natürlich befinden wir uns mit solchen Begriffen tief in komplexen buddhistischen Theorien, genauer gesagt, tiefer als ich persönlich bisher vorgedrungen bin (und wohl auch tiefer, als ich jemals vorzudringen die Zeit finden werde), ich führe sie hier nur an, um genauer zu sehen, auf welche Weise die buddhistischen Denker versuchen, das Bewusstsein in logischen Konzepten zu fassen.

Uns (mir) verständlicher ist eine Erklärung, die der Dalai Lama zu einer der obengenannten sieben Arten des Gewahrseins und der Erkenntnis gibt; "Ein anderer Bewusstseinstyp innerhalb der sieben Arten von Gewahrsein und Erkenntnis ist das unaufmerksame Gewahrsein; ein Bewusstsein, das das erscheinende Objekt nicht feststellt. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn das Augenbewusstsein so intensiv mit einem sichtbaren Gegenstand beschäftigt ist, dass das Gehörbewusstsein einen Laut zwar hört, ihn aber nicht feststellt." (Dalai Lama, 1993, S.75/76)

(Hier stösst man auch auf die Vorstellung von Augen- und Ohrenbewusstsein, die uns mit unseren westlichen Denkmodellen leichter zu erschliessen ist).

Es gibt dem Buddhismus zufolge einen sogenannten "Hauptgeist". Er ist eigentlich der Kern unseres Ichs und wohl identisch mit dem erwähnten subtilen Bewusstsein. So wie der Körper ja nur ein temporäre Wohnung ist, in der sich unser Geist für die Dauer eines Lebens einnistet, so sind auch die peripheren Teile des Bewusstseins vom Hauptgeist unterschieden. Da jedoch dieser Geist nichts materielles ist, können diese peripheren Teile, die Geistesfaktoren, nicht völlig von ihm getrennt sein, sie sind stark mit ihm verbunden. Diese Geistesfaktoren kann man sich teilweise wie Fenster vorstellen, durch die der Hauptgeist in die Welt hinausschaut. So kommt es, dass, wenn ein Mensch Wut empfindet (und natürlich ist Wut laut buddhistischen Lehren eine destruktive und falsche Emotion, wie eigentlich auch alle anderen Emotionen, die ja allesamt nur auf Unwissenheit basieren), sein Hauptgeist immer noch klar und erhellend ist - aber er begegnet seinem Objekt eben durch einen Geistesfaktor, der dieses Objekt falsch erfasst.

Diese Ansicht scheint mir (wenn man einmal vom Standpunkt des Laiens aus versucht, ihren Kern zu verstehen) grundsätzlich mit der Aussage Sokrates´ übereinzustimmen, dass eigentlich jeder Mensch von Grund auf gut sei, und nur Unwissenheit zu schlechten Taten führe; "Niemand tut freiwillig (wissentlich) Unrecht" (Sokrates, z.B.: DTV-Atlas, S.37)

Doch auch diesen Hauptgeist darf man wohl nicht als das eigentliche Ich auffassen. Weder er noch die Gesamtheit des Bewusstseins beinhaltet das "Selbst an sich". "Gleich einem Hunde, der, mit einem Riemen an einen Pfosten gebunden oder an eine Säule angeschlossen, um diesen Pfosten oder Sälue herumläuft (...) handelt ein unwissender, gewöhnlicher Mensch, (...) der die Gestalt als sein Selbst schaut, der das Fühlen, das Unterscheidungsvermögen, die Triebkräfte, das Bewusstsein als sein Selbst ansieht." (Buddha, z.B.: Reden des Buddhas, S. 68/69) sagt Buddha. Er spricht in diesem Zusammenhang vom Nirvana (eigentlich vom Nibbana - dies sind soweit ich weis nur verschiedene Schreibweisen), davon, wie man es erreichen kann. Wer sich auf seine Sinne stützt, an seinem Bewusstsein festhält, der wird es nicht erreichen, man muss im Gegenteil dazu bereit sein, sein Bewusstsein aufzugeben. Denn wer das Nirvana, das "Verlöschen" erreicht, dessen Bewusstsein löst sich auf.

Wie solch ein bewusstseinsloser Zustand aussehen soll und ob er wirklich eintritt, ist meiner Meinung nach selbst den Buddhisten nicht klar; "Nach ihrer (Anm.: Bezeiht sich auf die Hörer-Schulen) Ansicht war der Geist des Buddha zu diesem Zeitpunkt (Anm.: Als Buddha ins Nirvana eintrat) einerseits vollkommen erleuchtet, aber andererseits völlig erloschen. Er war nicht länger Bewusstsein. Man möchte meinen, dass eine solche Lehrmeinung zu Mutlosigkeit beiträgt; mir erscheint es sehr viel erstrebenswerter, ein lebendiges Bewusstsein zu haben, als vollständig zu verlöschen. Doch dies ist die Erklärung der entsprechenden Lehrmeinungssysteme der Hörer." (Dalai Lama, 1993, S. 68) sagt der Dalai Lama.

Abgesehen davon, dass es gerade hier offensichtlich einige Meinungsunterschiede zwischen den einzelnen buddhistischen Schulen gibt, ist dies ein sehr kompliziertes Thema - über einen bewusstseinslosen Zustand zu diskutieren mag vielleicht sogar sinnlos sein. Aber zumindest wird deutlich, dass das Bewusstsein auch negative Aspekte hat. Das Festhalten daran hält einen davon ab, erleuchtet zu werden; es wirkt wie ein Anker, der uns am Fortkommen hindert.
 

Eine kurze Zusammenfassung

Auch um mir selbst die Orientierung etwas zu erleichtern folgt eine kurze Zusammenfassung der verschiedenen Konzepte, die (erstens) der Buddhismus betreffend dem Bewusstsein hervorgebracht hat, die (zweitens) bisher angeführt wurden und die (drittens) selbstverständlich nur eine kleine Auswahl bilden. Die Liste ist sehr knapp, sie gibt nur einen stichwortartigen Überblick:

  1. Passiv: Erkenntnis und Klarheit
  2. Aktiv: "Spiegel", leuchtendes Betrachten
  3. Alles hervorbringende, umfassende Kraft
  4. "Seele", der Aspekt des Körpers, der wiedergeboren wird
  5. Subtiles Bewusstsein: "Samen", aus dem gröbere Bewusstseinsebenen entstehen
  6. Träger des Karmas
  7. Träger der Buddhanatur
  8. Einheit aus Hauptgeist und peripheren Geistesfaktoren
  9. Hindernis auf dem Weg zur Erleuchtung, negativer "Anker"
Doch auch welche Weise auch immer der Buddhismus versucht, das Bewusstsein rein verstandesmässig zu ergründen, auch er muss schliesslich anerkennen, dass dieses sich mit solchen Mitteln nie wirklich fassen lässt, dass also der logische Verstand zu manchen Zwecken das falsche Werkzeug ist.


Das falsche Werkzeug?

Der Eindruck, der Buddhismus komme niemals von seinem Pfad des logischen Denkens ab, ist also nicht zutreffend. Auf der Suche nach Erleuchtung haben die buddhistischen Denker wohl bemerkt, dass der Verstand, der ja ein Teil des Bewusstseins ist, irgendwo an seine Grenzen stösst, z.B. wenn es darum geht, genau dieses Bewusstsein als getäuscht zu erkennen. Manche buddhistische Konzepte (wie die Nichtexistenz der inhärenten Existenz) sind vielleicht logisch gerade noch nachzuvollziehen, aber sie können mit dem "normalen" Denken nicht mehr richtig erfasst werden.

Beim Zen-Buddhismus werden viele Gedanken noch schwerer verständlich, kein Wunder also, dass Janwillem van de Wetering gestutzt hat, als ihm am Beginn seiner "Mönchskarriere" ein Zen-Meister anvertraute: "Das Leben hat einen Sinn, aber einen Fremden. Wenn du an das Ende des Weges kommst und vollkommene Einsicht findest, wirst du sehen, dass Erleuchtung ein Witz ist. A Joke. (...) Das Leben ist ein Witz, das wirst du eines Tages verstehen lernen." (van de Wetering, 1981, S. 14)

Um so einen Satz zu verstehen, ist die Ratio bestimmt nicht das geeignete Mittel. Nur mit Hilfe der subtilen Bewusstseinsebenen vermögen wir, ihn richtig zu erfassen - aber: "Wenn wir subtilere Ebenen des Geistes erleben, geschieht dies (...) aufgrund irgendwelcher natürlicher Umstände, die eine Unterbrechung der gröberen Bewusstseinsebenen zur Folge haben. Wir werden ohnmächtig, verlieren das Bewusstsein, der Geist wird unklar, und (Anm.: Das ist das Problem) wir sind nicht in der Lage, die Kraft der subtileren Bewusstseinsebenen aktiv zu nutzen." (Dalai Lama, 1993, S. 147)

Wenn man also die subtileren Ebenen auf die Weise erreicht, die oben beschrieben ist, kann man keinen richtigen Nutzen daraus ziehen, weil man sie nicht bewusst erlebt. Um nun die gröberen Bewusstseinsebenen auszuschalten und gleichzeitig die subtileren aktiv mitzuerleben, hat der Buddhismus verschiedene Methoden hervorgebracht. Paradoxa sind beispielsweise ein schon lange bekanntes Mittel, wie man bei Lama Govinda nachlesen kann.

Er beschriebt allerdings zuerst, das Zen habe "(...) jedoch - wie alle buddhistischen Schulen - eine vernunftmässige Grundlage: Es ist weder vom Glauben noch von erstarrten Lehrmeinungen abhängig, sondern allein von direkter Erfahrung und unvoreingenommener Beobachtung." (Govinda, 1995, S.81/82), und er betont, dass sich - wiederum wie alle buddhistischen Schulen - auch Zen fernhalte "(...) von vorgefassten Anschauungen, Dogmen und Glaubenssätzen (...)" (Govinda, 1995, S.82). Aber: "Schon relativ früh hatte man im Buddhismus versucht, die Grenzen des Denkens durch Paradoxa zu durchbrechen." (Govinda, 1995, S.82). Auf die Koans, die in diesen Zusammenhang gehören, komme ich gleich zu sprechen.

In westlichen Länder richtet sich aber ein Grossteil des Interesses auf die Sexualität und das Tantra. Indem der Meditierende sinnliche Begierde willentlich in sich entstehen lässt, sich dabei auf die Vorstellung von inhärenter Existenz stützt (ohne die keine Begierde entstehen könnte), verdrängt er die gröberen Bewusstseinsebenen und fördert die subtileren. Durch diese erkennt er nun die Leerheit, erkennt, dass die inhärente Existenz nur ein Trugbild ist. Seine sinnliche Begierde verschwindet wieder. Der Meditierende geht von etwas aus, dass er am Ende wieder aufhebt. Der Dalai Lama erklärt dies so: "Dieser Vorgang wird mit dem altberühmten Bild des Holzwurmes veranschaulicht, der genau das Holz frisst, aus dem er gewachsen ist." (Dalai Lama, 1993, S. 148)

Ein weiteres Mittel, ein Mittel des Zen-Buddhismus, um hinter die Bühnen der Wirklichkeit zu sehen, sind die Koans. Koans sind Sätze und Fragen, die man mit "normalem" Nachdenken nicht verstehen kann (eben z.B. Paradoxa). Sie werden Mönchsschülern als Meditationsobjekt von ihren Lehrern aufgegeben.

Zwei der auch im Westen sehr bekannten lauten etwa so: "Tief im Wald fällt ein Baum. Nichts und niemand kann ihn fallen hören. Gibt es ein Geräusch?" und "Was für einen Ton macht das Klatschen einer Hand?". Koans müssen nicht unbedingt Fragen sein, es können auch Aussagen oder Befehle irgendeiner Art sein; "Halte einen durchgebrannten Stier mit einer Hand auf." lautet eines, an das ich mich erinnern kann.

Auf solche Sätze kann es natürlich keine logische Reaktion geben. Die "Antwort" ist auch nicht das eigentliche Ziel, denn wie so oft ist der Weg zum Teil schon das Ziel: "Werd eins mit deinem Koan, vergiss dich selbst, vergiss alles, was mit dir zusammenhängt. Wenn du dasitzt, sitz still, im Gleichgewicht, atme ruhig, leere deinen Geist, wiederhole dein Koan, als ob dein Leben davon abhinge, ruhig und immer und immer wieder. Beeile dich nicht, errege dich nicht, bleib ruhig und gleichmütig, gleichmütig gegenüber allem, was dich bedrückt oder dir wichtig erscheint oder dich fesselt." (van de Wetering, 1981, S. 44) rät der Meister seinem Schüler.

Die Lösung der Koans kann jede Mögliche Form annehmen; nach der Lösung seines Koans gefragt könnte der Schüler zum Beispiel seine Sandalen ausziehen und sie seinem Lehrer ins Gesicht schlagen. Oder er könnte die Glocke vom Pult des Lehrers nehmen und klingeln. Ich muss zugeben, dass mir solche Techniken ein grosses Rätsel sind, auch wenn ich die Idee von nicht logisch lösbaren Rätseln sehr interessant finde. Vermutlich hat es für uns unkundige Laien aber keinen Sinn, näher darüber nachzudenken - es gab viele Mönche, die ein Leben lang über Lösung ihres ersten Koans nachgedacht haben.

Um das Kapitel nicht in grossem Unverständnis enden zu lassen möchte ich noch folgendes anführen: In einer Fernsehsendung über Zen-Buddhismus habe ich kürzlich einen Gedanken gehört, der zwar auch das Thema der Irrationalität behandelt, den aber selbst ich verstehen konnte. Es wurde mir dabei ein wenig klarer, was für eine Wandlung des Bewusstseins die Buddhisten anstreben, um der endgültigen Wahrheit auf die Schliche zu kommen. Der japanische Zazen-Meister Hirokashi Shobo erklärte, dass einer der wichtigsten Unterschiede zwischen Mensch und Tier der sei, dass die Menschen immer gleich alles mit dem Verstand zu erfassen versuchten; Wenn sie hungrig sind, dann denken sie sich "ich bin hungrig. wann habe ich denn das letzte Mal gegessen? soll ich jetzt etwas essen?" und so weiter. Der Hund aber denkt nichts, er fühlt den Hunger nur. Im Bauch erlebt er den Hunger, nicht im Kopf. Dann sagte der Zazen-Meister: "Wie ein Hund zu sein, das ist Zazen!".


Teil 4: Persönliche Gedanken

Schade:

In keinem anderen Kapitel war es so schwer, die Gedanken in Worte zu fassen. Auch nach mehrmaligem "Durchkämmen" gelang es mir bei etlichen Stellen nicht, sie so zu ändern, dass die Idee dahinter klar ersichtlich werden. Manche Ideen sind eben eher Gefühle als klare Gedanken;

zufälligerweise habe ich gerade kürzlich zu dem Problem der unzulänglichen Sprache einen sehr schönen Satz gelesen, und zwar in "Madame Bovary" von Flaubert: " (...) weil die menschliche Sprache wie ein gesprungener Kessel ist, auf dem wir Melodien trommeln, als gälte es Bären tanzen zu lassen, während wir doch die Sterne rühren wollten." (Flaubert, 1972, S.237)


Das Bewusstsein

Die Frage nach dem Bewusstsein ist für mich die sehr umfassende Frage nach dem Leben selbst - und es ist zugleich auch die nach dem Ich. Die intellektuelle Beschäftigung mit dem Phänomen "Bewusstsein" gehört wohl zu den schwierigsten Aufgaben, der wir Menschen uns stellen können - das ist auch die Ursache dafür, dass es so schwierig ist, dieses Thema innert weniger Seiten zu behandeln.

Das Bewusstsein ist in meinen Augen nicht ein einzelner Faktor unserer Persönlichkeit, der neben vielen anderen steht, (wie etwa das Gedächnis, das Wissen oder das Gewissen) und den wir wie die beiden genannten in bestimmten Situationen "aktivieren", um uns klarzumachen, wie wir z.B. zu einer bestimmten Sache stehen. Ich denke, das Bewusstsein ist der Zustand all unserer Empfindungen und Gedanken - in jedem beliebigen Moment. Neben diesem Bewusstsein existiert kein weiteres "Ich". Denn schliesslich kann "ich" mein Bewusstsein nicht von aussen wahrnehmen und es beurteilen oder gar willentlich ändern. Das einzige, was ich tun kann, ist, vom Standpunkt eines späteren Bewusstseinszustandes aus einen früheren zu betrachten. Der Dalai Lama hat dies so formuliert: "(...) dass ein späterer Augenblick von Bewusstsein einen vorhergehenden Augenblick von Bewusstsein erkennt, (...)" (Dalai Lama, 1993, S. 35)

Wir sind also, um es etwas negativ auszudrücken, in unserem Bewusstsein gefangen (natürlich stimmt dieser Ausdruck so nicht, wir sind ja nicht in unserem Bewusstsein, sondern ein Teil davon - also auch nicht eigentlich "gefangen").

Aber um ein Ich zu erfassen, reicht nicht nur das Betrachten eines bestimmten Bewusstseinszustandes. Das Ich ist die Gesamtheit aller Bewusstseinszustände des Menschen; durch diese Gesamtheit ist er definiert. Um diese zwei Überlegungen etwas genauer zu erläutern möchte ich zwei (natürlich sehr vereinfachte und nicht hundertprozentig treffende) Bilder benutzen;

Da das Ich aber ein vom Bewusstsein nicht zu trennendes Element ist, bestimmt nur dieses (das Bewusstsein) "alleine", ob es momentan die Lust dazu hat, aufgrund einer Blume stehenzubleiben oder nicht (Ich weis, dass ich mich mit solchen Gedanken teilweise vom Buddhismus entferne, aber dieses Kapitel ist ja auch mein persönliches Tummelfeld). Kein Ich kann frei von allen es umgebenden Faktoren Entscheidungen treffen. Wollte ich irgend jemandem die wirkliche Essenz des Begriffes "Aare" nahebringen, so müsste ich Photos haben, die die Aare in absolut jedem Zeitpunkt ihrer Existenz zeigen (natürlich würde dieser jemand selbst dann die Aare nicht wirklich erfassen, er hat ja zum Beispiel nie ihr Nass gespürt, aber dieser Vergleich ist schliesslich vereinfacht), denn nur das Ganze, also jede Form, die ihre Wasser jemals angenommen haben, ergibt am Ende das "Objekt" Aare (natürlich ist das Beispiel mit der Aare kein Zufall; Heraklit’s "Alles fliesst" und "man kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen" (Heraklit, z.B.: DTV-Atlas, S. 33) sind mir sehr einleuchtend). Genauso ist es auch mit dem Bewusstsein und dem Ich. Das Bewusstsein ist wie das Fliessen des Wassers und das Ich ist das Ganze, das sich ergibt, wenn man alle Zustände des Bewusstseins zusammennimmt. Dies ist, kurz erklärt, meine Definition - besser: eine meiner Definitionen - des Bewusstseins. Zugleich ist mir der Erklärungsversuch dieser Definition wieder einmal eine Lehre dafür, wie unzulänglich die Sprache als Werkzeug zur Übermittlung von Gedankengängen ist.


Die Katze in der Nacht

An einem kalten Abend im Februar, ich wollte gerade ins Bett gehen, hörte ich vor dem Fenster das erbärmliche, jammernde Miauen einer Katze. Ich lief eilig hin und öffnete es, fürchtend, Lucky (meiner Katze) sei etwas zugestossen. Da bemerkte ich aber, dass Lucky sich zufrieden zwischen meinen Beinen hindurchschlängelte. Also musste das Wehklagen, das aus dem Dunkeln in mein Zimmer drang, von einer anderen Katze stammen. Ich habe mehrere Male in die Nacht hinausgerufen und versucht, das Tier mit einer Taschenlampe ausfindig zu machen. Aber ich konnte nichts ausrichten; sobald ich rief oder die Lampe einschaltete, verstummte das Jammern, war ich eine Weile ruhig, begann die Katze wieder zu weinen.

Da mir nichts anderes übrigblieb ging ich dann zu Bett. Schliesslich hatte die Katze ja einen Besitzer, der würde sich um sie kümmern. Aber als ich im Dunkeln dalag, hörte, wie der harte Wind gegen mein Fenster schlug, mir vorstellte wie eine kleine Katze sich vielleicht irgendwo, draussen in der Kälte das Pfötchen eingeklemmt hatte und nun erbärmlich weinte, konnte ich unmöglich einschlafen. Solch herzzerreissendes Leid in meiner unmittelbaren Nähe; es war zum Verzweifeln. Immer weiter steigerte ich mich in etwas hinein; die Kälte, das Dunkel, die Nacht - und die kleine, hilflose Katze.

(Ich weis dass der folgende Satz zu häufig bemüht wird, aber hier trifft er wirklich zu;) Da traf es mich plötzlich wie ein Schlag: gestern, vorgestern, die ganze vergangene Woche hatte ich keinerlei Mühe gehabt mit dem Einschlafen, aber jetzt, heute, war ich unfähig dazu, weil ich immer an das Leid der Katze denken musste - aber war und ist es denn nicht so, dass gestern, vorgestern, heute, jeden Tag und jede Stunde tausend, abertausend Menschen unsagbar leiden? Hunderttausende von Kindern verhungern jeden Monat, auf der ganzen Welt werden Menschen gefoltert, gequält und unterdrückt. Aber wer würde leungen, dass er dennoch jeden Abend friedlich in seine Träume sinkt?

Mir wurde plötzlich am eigenen Leibe klar, wie subjektiv unser Bewusstsein arbeitet. Hört man vor der Türe das Jammern einer Katze, lässt es einen an nichts anderes denken. Hingegen: Weis man auch im Hinterkopf genau, wieviel Leid auf dieser Erde in jedem Augenblick ausgestanden wird (nicht nur von Menschen, natürlich auch von Tieren, z.B. von Batteriehühnern, von verfolgten Tieren wie den Robben, man kann sie nicht alle aufzählen - auch die arme Katze tut mir natürlich noch immer leid (obwohl es ihr wohl inzwischen wieder gut geht)), so stört einen dieses Wissen nicht weiter, man kann es relativ einfach verdrängen.

Dieses kleine Beispiel hat neben dem gerade gezeigten kein grosses Fazit und es birgt nichts, was man nicht auch anders hätte zeigen können. Aber ich muss zugeben, dass mich die Erkenntniss dieser Nacht sehr bewegt hat. Der Gewissenskonflikt, der mich erfasste, als ich mir so unvermittelt meines verlogenen Mitleides bewusst wurde, das ja nur aufgrund des subjektiven Bewusstseins entstehen konnte, quält mich noch immer.
 


Zwei Fragen

Nichtsdestotrotz: möge das Bewusstsein auch noch so subjektiv sein, gar trügerisch und zweideutig - ich drehe ihm keinen Strick daraus. Und zwar deshalb, weil das Bewusstsein eigentlich alles ist, weil neben ihm nichts ist. Das Bewusstsein ist kein Objekt, das neben oder in der Wirklichkeit steht und sie beobachtet und registriert, und dies eben mehr oder weniger präzise tut. Es ist für und selber die Wirklichkeit, das einzige, von dem wir sicher sein können, dass es existiert - auch wenn es ein gar nebelhaft Ding ist! Zwei Fragen, um das deutlicher zu machen und weiter zu verfolgen:

Dass das Bewusstsein meiner Meinung nach uns als Ich und als Person, unser ganzes Selbst ausmacht, habe ich ja schon erwähnt. Da ist kein festes, unveränderliches Ich in mir, da ist kein Körper, der mein Selbst definiert - der Körper ist ohne Bewusstsein ein totes Stück Fleisch. Es gibt zwar das Hirn, eine Art Schleuse, durch die mein Bewusstseinsfluss ununterbrochen strömt. Aber auch es ist nur Materie, die nicht den Menschen an sich, seinen Charakter, sein Ich fassen kann.

Ich bin aber nicht etwa der Ansicht, dass das Bewusstsein etwas ist, das irgendwie über der Materie steht, eine nebelartige Seele, die mich umgibt. Das Bewusstsein ist nämlich streng genommen der Zustand der Elektronen, Neutronen, Protonen, Quarks und all der etlichen anderen Teilchen mehr (von denen ich nichts verstehe) in meinem Gehirn. Aber das Gehirn ist nur ein Träger von Information, die aus dem Zusammenhang gerissen keinen Sinn hat. Man kann es mit einem Lied vergleichen; auf der Platte sind Informationen darüber, welcher Ton zu jeder Sekunde des Liedes zu erklingen hat. Pickt man sich eine solche Information, einen solchen einzelnen Ton heraus, ist er sinnlos, er sagt nichts über das Lied aus.

Die noch wichtigere Ähnlichkeit zwischen dem Lied und dem Bewusstsein ist, dass sie beide streng genommen nur als Idee existent sind. Von einem Lied kann ich immer nur einen Ton hören. Das ganze Lied an sich aber ist eine Folge von Tönen, die sich über einige Zeit erstreckt.

Wie kann ich nun das Lied an sich fassen? Indem ich es niederschreibe? Bestimmt nicht, da der ganze akustische Aspekt verlorengeht. Indem ich es auf eine Platte presse? Auch nicht, denn wie gesagt werde ich beim Abspielen ja immer nur einen Ton davon zur selben Zeit hören, nie das Lied an sich. Die Essenz des Liedes existiert eben nur als Idee - wenn ich an das Lied denke, die Stimmung, die es in mir auslöst, nachempfinde, die Assoziationen, die es weckt, fühle, dann erkenne ich sein Wesen (und im übrigen erkenne ich auch dann nur die Seite des Liedes, die für mich persönlich gilt; ich verbinde andere Erinnerungen damit, habe andere musikalische Vorlieben als jeder andere - es gibt eigentlich nicht ein Lied, es gibt eine Unzahl von Liedern, eines für jeden, der es hört).

Dabei kommt einem natürlich die Ideenlehre des Platon in den Sinn. Man kann diese meiner Meinung nach auch auf das Bewusstsein anwenden: alle Versuche, es irgendwo festzunageln, zu erfassen, müssen scheitern, da es eben nur die Idee eines Bewusstseins - wie auch nur die Idee eines Ichs - gibt.

Wer bin denn schon "ich"? Ich kann mich nur dadurch definieren, dass ich mein Verhältnis zu anderen Objekten definiere. Ich kann mich also jemand anderen nur erklären, indem ich ihm sage, wie ich zu einem dritten Objekt stehe. (Der im Buddhismus kritisierte Dualismus taucht wieder auf, ohne ihn ist unsere herkömmliche Art des Denkens eben nicht "denkbar")

Versuchen wir einfach mal, ein Ich genau zu erfassen: Franz zum Beispiel hat gerne Äpfel, Kurt mag lieber Birnen. Franz liebt Rockmusik, Kurt bevorzugt klassisches... Könnte man diese Liste beliebig weiterführen (was man nicht kann, da sie unglaublich lang wäre), so käme man dem Ich dieser zwei Individuen immer näher. Irgendeinmal hätte man alles aufgezählt, von dem Franz und Kurt sagen können, wie sie dazu stehen (natürlich wären viele dieser Bezugsobjekte viel komplexer oder umfassender als eben ein Apfel oder eine Birne - es wären darunter auch Charakterzüge von Menschen, politische Weltanschauungen, gar jeder einzelne Satz, den die beiden bisher gelesen, gehört, gesagt oder gedacht haben). Man hätte in diesem theoretischen Fall Franz und Kurt eindeutig definiert, ihre Ichs wären völlig durchleuchtet, denn alles, was sie von anderen unterscheidet (eben ihre Beziehungen zu ihrer Umwelt) wäre festgehalten.

Ich habe aber eben gesagt, es gibt nur die Idee des Ich - ist das nun kein Widerspruch; dass wir Franz’s Ich definiert haben? Eben nicht, und zwar deshalb, weil es (erstens) immer noch viele Dinge gäbe - von simplen Gegenständen bis hin zu komplexen Gedankengängen und Konzepten - von denen Kurt und Franz nicht wissen, was sie darüber denken, die sie gar noch nicht kennen. Kurt und Franz haben ihre Ichs nur in einem bestimmten Rahmen festgesetzt, und wir haben ihre Ichs nur in diesem bestimmten Rahmen eindeutig definiert, in dem Rahmen dessen, das sie kennen und zu dem sie sich in Beziehung stellen können. Aber ausserhalb von diesem Rahmen ist noch unendlich viel mehr - niemals kann irgendwer genau wissen, wie er zu allem steht.

Zweitens ist man sich auch im Rahmen dessen, was man kennt, immer nur seiner Beziehung zu einem Teil der Dinge bewusst. Ich realisiere in dem Moment, wo ich dies schreibe zum Beispiel nicht, wie ich zur Politik von Clinton stehe, ich bin mir nicht bewusst, ob ich Äpfel mag, ich "weis" nicht einmal meinen eigenen Namen - all dies ist irgendwo in meinem Gedächtnis gespeichert, ich muss erst meine Aufmerksamkeit vom unmittelbaren Schreiben abwenden, um mir wieder darüber klar zu werden.

Um es deutlicher zu machen: will mich jemand genauer kennenlernen, könnte er mich etwa fragen: "Wie denkst du über Atomkraft?". Ich würde dann vielleicht sagen: "Ich bin jemand, der ihr negativ gegenüber steht." und hätte mein Ich etwas beleuchtet. Ich könnte mir aber nicht gleichzeitig bewusst sein, wie ich zum Islam stehe. Wie die Taschenlampe, mit der ich nach der Katze gesucht habe; sie erleuchtet immer nur einen Teil der Landschaft, und auch wenn die Landschaft im Dunkeln eigentlich immer da ist, kann sie nie als ganzes da sein.

Aus diesem Grunde sind viele, ja eigentlich alle Menschen ja auch immer wieder von sich selbst überrascht! So mancher hätte nie gedacht, dass er "zu so was fähig" sei. Die Frage, wie jemand zum Beispiel reagiert, wenn er körperlich bedroht wird, liegt eben innerhalb des Bereichs, den dieser jemand nie richtig ausgelotet hat, in dieser unbeleuchteten Landschaft. Folglich ist er nicht darauf gefasst, was er dann darin findet.

Dennoch - ich (und auch dieser eben erwähnte jemand) weis "irgendwie", wer ich bin (wer er ist); ich bin ein pessimistischer Mensch, liebe die Sprache, stehe mit den Füssen zu selten (oder zu oft?) fest auf dem Boden der Tatsachen - alle diese Dinge sind mir doch ständig bewusst, aber wie eine Wolke, ohne genaue Konturen. Ich habe eine ungefähre Vorstellung davon, wer ich bin und was ich will, ich weis es aber nie genau, ich habe eben nur eine Idee meines Ichs.

Ich habe den Abschnitt damit begonnen, dass ich behauptete, das Bewusstsein sei eigentlich alles, sei das einzige, von dem wir sagen können, dass es existiere.

Es ist ja so, dass ein jedes Objekt in dieser Welt von keinen zwei Menschen gleich gesehen wird, ich habe das schon mehrmals erwähnt. Dabei braucht man gar nicht immer gleich das extreme Beispiel von den Farbenblinden zu nennen. Nicht nur die körperlichen Merkmale und Organe bestimmen diese Unterschiede bei der Wahrnehmung. Der Christ sieht alles anders als der Moslem. Der Vegetarier anders als der McDonalds-Vorstandsvorsitzende. Der Arme als der Reiche. Sogar der, der als Kind häufig Karten gespielt hat als der, der lieber würfelte. Nicht nur jedes Merkmal, das wir genetisch erben, sondern auch jedes Ereignis, das wir erleben, macht uns zu individuellen, voneinander verschiedenen Menschen, sogar zwei Klone wären sich über viele Dinge uneins.

Natürlich ist dies eine Binsenweisheit. Aber man muss sie eben auch konsequent weiterdenken. Denn wenn kein Ding auf der Welt ist, von dem wir eindeutig sagen können, wie es wirklich ist (im dritten Kapitel habe ich ja schon davon gesprochen, dass die meisten unserer Adjektive nur im Vergleich funktionieren, auch Lama Govinda’s Zitat ist in diesem Zusammenhang interessant), gibt es dann überhaupt eine Wirklichkeit? Kann ich mich auf irgendwas verlassen, wenn mir niemand von irgendwas bestätigen kann, dass es so ist, wie ich es erlebe? Der Blinde, der den Rüssel hält, wird niemals dem Blinden rechtgeben, der den Schwanz hält und sagt: "Der Elefant ist gleich einem Pinsel!".

Ich will einmal eine ganz verrückte Annahme treffen: angenommen, ich sei eigentlich ein Wesen mit zwanzig Armen und fünfunddreissig Bauchnäbeln, das in einer Welt lebt, in der alle unsere physikalischen Grundsätze nicht gelten. Nun hätte mich aber ein Artgenosse an eine heimtückische Maschine angeschlossen (ähnlich den bösartigen Wesen Descartes’), die mein Gedächtnis ausgelöscht hat und die mir nun Trugbilder vorspielt, die mich nun denken macht, ich sei ein sogenannter "Mensch", ich lebte auf einem Planeten namens "Erde", ich ginge jeden Tag in die Schule usw. Niemand kann mir beweisen, dass dem nicht so ist, dass ich nicht in dieser Maschine stecke! Niemand kann mir beweisen, dass er nicht selbst ein solches Wesen ist, dem man dasselbe angetan hat, und dass ich nicht einfach eine Vorspiegelung der Maschine bin.

(Es gibt ja sogar einen Fachausdruck für Menschen, die denken, sie seien die einzigen Wesen, die existieren - nur habe ich den leider vergessen) Wie dem auch sei; wenn das Leben eine Täuschung oder ein Traum ist (man denke an die berühmte Schmetterlingsgeschichte), dann könnte die Wirklichkeit, die sich dahinter verbirgt, jede beliebige sein. Die Erde als Versuchslabor einer höheren Rasse, unser Universum als der Traum eines Gottes - diese und noch verrücktere Thesen sind weder beweis- noch widerlegbar (also eigentlich etwas sinnlos (?) (es tut mir leid, ich konnte mich schon wieder eines Fragezeichens nicht enthalten - Fragezeichen müssen wohl der Philosophen liebstes Satzzeichen sein)).

Das einzige, worauf ich mich verlassen kann, ist, dass ich etwas empfinde, dass ich ein Bewusstsein habe - sei es nun getäuscht oder nicht. Ob jemand anderes ein Bewusstsein hat, ob dieser andere überhaupt existiert, dies entzieht sich schon meinem Erkennen.

Nun haben sich die Fragestellungen in diesem Kapitel eigentlich nur darum gedreht, welche Attribute das Bewusstsein hat, in welchem Zusammenhang es mit dem Ich und mit der Wirklichkeit steht. Was aber ist das Bewusstsein? könnte und müsste man nun fragen. Aber so sehr ich es befürworte, jeder Frage mit Logik und Neugier auf den Grund zu gehen zu versuchen, hier muss ich endgültig passen. Schon die Antworten, die ich in diesem Kapitel zu geben versuchte, sind abenteuerliche Gedankenspiele in einem eigentlich leeren Raum. Aber dieser letzten Frage stehe ich nun wirklich völlig wortlos gegenüber, und so bin ich sehr froh, dass ich zumindest bei jemand anders einen - wie ich finde ausserordendlich weisen und sehr schönen - Gedanken dazu gefunden habe. Lama Govinda ist es, der feststellt, "(...) dass wir - wie jedes fühlende Wesen - ein sich ständig wandelnder Brennpunkt sind, in dem sich das Universum seiner selbst in einmaliger Weise bewusst wird." (Govinda, 1995, S.195)

Dies scheint natürlich etwas der vorherigen Idee zu wiedersprechen, der Vorstellung nämlich, dass das eigene Bewusstsein das einzige sei, das man als existent erkennen könne. Insofern nämlich, dass Lama Govinda das ganze Universum als existent annimmt, nicht nur ein einzelnes Bewusstsein. Da aber bei der ersteren Vorstellung durchaus die Möglichkeit vorhanden ist, das sein eigenes Bewusstsein wahrnehmende "Ich" als "das Universum" zu verstehen, entsteht eigentlich kein Konflikt zwischen den beiden Gedanken, und die Feststellung bleibt: dass nämlich dieses eigene Bewusstsein, abgesehen von all seinen Makeln und blinden Flecken, eigentlich das einzige ist, dessen Existenz nicht bezweifelt werden kann.


Oder etwa doch?

Oder etwa doch?

Ich möchte eigentlich nichts so endgültig stehen lassen, vor allem nicht am Ende des Textes. Das ganze Thema "Bewusstsein" hat mich vor allem aufgrund solcher Fragen interessiert; "Wer bin ich?", "Was heisst bewusst?", "Was weis ich von der Wirklichkeit?". Alles sind dies Fragen, die an die Grenzen unseres Denkens nahe herankommen, vielleicht sogar darüber hinausgehen. Sie haben mich schon lange beschäftigt, und ich täte ihnen unrecht, wenn ich mit so einer klaren Aussage endigen würde.

Denn wie wenig können wir doch von solchen Fragen wissen und begreifen! Dies will ich hier, im letzten Abschnitt, noch einmal betonen.

Dazu komme ich auf den Anfang dieses Kapitels zurück. Dort habe ich geschrieben, die Frage nach dem Bewusstsein sei auch die Frage nach dem Leben. Dabei habe ich unerwähnt gelassen, dass es folglich auch die Frage nach dem Tod ist. Denn wer wissen will, was hell ist, der muss das Dunkel kennen. Wer die Wärme verstehen will, muss die Kälte fühlen (Der Dualismus lässt grüssen!). Der Tod ist aber soweit ersichtlich nichts anderes als das Gegenteil von Bewusstsein. Nun wird auch verständlicher, weshalb wir solche Mühe haben, das Bewusstsein zu erfassen: versuchen wir, es zu verstehen, geht es uns ähnlich wie dem Tauben, der Musik nachempfinden will, oder dem Hörenden, der sich fragt, wie ein Tauber sich wohl fühlt. Wie diese zwei kennen wir nur den einen Zustand - den des Bewusstseins. Den Tod aber, oder das "Nicht-geboren-sein", kennen wir nicht.

Oder etwa doch?

Meiner Meinung nach haben wir nicht die Konstanz, die Ewigkeit in uns, die uns die meisten Religionen zuschreiben - darunter auch das Christentum oder der Buddhismus. Hätten wir so eine unsterbliche "Seele", dann entwichen wir aus unserem verstorbenen Körper wie ein Schauspieler von der Bühne. Wir sähen eine Zeitlang die Dinge hinter den Kulissen, bis wir wieder in eine neue Rolle schlüpften. Auf der Bühne wüssten wir nichts von unserer Existenz als Schauspieler, wir wären eins mit unserer Rolle, wie wir es jetzt sind. Einen Zustand des "nicht-Bewusstseins" gäbe es dann nicht.

Was aber, wenn wir, wenn unser Bewusstsein, nur ein unglaublich komplizierter, zufälliger Hauch ist, der aus dem Zusammenspiel zwischen ein paar Millionen Molekülen, Milliarden Atomen entsteht? Was, wenn in den Atomen, aus denen ich bestehe, die vorher in Fische, Bäumen, Schlammpfützen und Steinen geruht haben, kein göttlicher Funke wohnt, wenn diese Atome sich von ihrem Zustand als Stein, den sie früher gebildet haben, nur dadurch unterscheiden, dass sie nun durch chemische Reaktionen und elektrische Signale den Anschein von Bewusstsein geben, den Anschein von "Moritz-Sein"?

Diese Frage habe ich mir oft gestellt, und so oft sie mich beunruhigt hat, mich auch manchmal etwas hat verzweifeln lassen, so oft ist sie mir auch Trost gewesen. Denn erscheint nicht in Anbetracht dieser Vorstellung all unser Schalten und Walten, all die Aufregung, um alltägliche Dinge wie auch um das Leben und den Tod selbst, absurd und sinnlos?

Ich, mein Leben, mein Bewusstsein sind doch nichts anderes als eine komplexe physikalische Reaktion, die irgendwann begann, und die irgendwann wieder enden wird.

Oder etwa doch?


Literaturverzeichnis:

1996


© Moritz Gerber