AM FENSTER

Der Innenhof eines Wohnblocks im Amerika der 50er Jahre. Scheppernde Radiomusik hallt von den Häuserfronten wider. Hinter Fenstern, Wäscheleinen und Blumentöpfen wird Alltags-Theater gespielt; Hausarbeit, Zank, Zeitungslesen. Die Kamera fährt auf ein Fenster zu, in das Zimmer dahinter. Es ist schmutzig, leer, nackt. In schräg durchs Fenster fallenden Lichtsäulen tanzt der Staub.

Zwei Männer stehen beim Fenster: in ROB stossen Schaffensdrang und der Kater einer durchzechten Nacht aufeinander, HERB dagegen, etwas jünger, ist tadellos angezogen, als hatte man ihn eben aus einer Verpackung gerissen.
 

HERB

Es kann doch nicht sein, dass wir richtig sind. (Blättert in einem Notizbuch:) Wir sind im zwölften Appartment? Er kommt doch nie zu spät. Kommt er manchmal zu spät?
 

ROB

Wir warten... "Nothing to be done", weißt du doch...

Sowieso: "Nicht richtig"... Denkst du, das steht in deinem Buch, wo wir richtig sind? Schau‘ dich um, dann siehst du’s!

(schaut hinaus:) Fantastisch. Das wird ein wunderbarer Streifen. Hitch’s bester. Diese Location; eine grosse Idee.
 

HERB

Es war ja nicht seine. Es war eine Kurzgeschichte.

(schaut auch zum Fenster hinaus:) Sowas sollen wir nachbauen? Das wird die organisatorische Hölle...
 

ROB

Ein Kunstwerk wird es. Film in Reinform. Filmgeschichte! Die Möglichkeiten, was man hier alles machen kann! Mit dem Teleobjektiv vom Fenster aus einen Mordfall lösen – einmalig! Die Grundsituation des Zuschauers, des Zuschauens. Archetypische Kameraarbeit...
 

HERB

Ich glaube nicht, dass wir richtig sind. (geht zur Tür:) Wir sind im zwölften?

(öffnet die Tür, schaut in den Flur:) Eins, zwei...
 

ROB

War es das zwölfte? Und James? Der wollte doch auch früher kommen. Du und dein Buch!
 

HERB

... elf, zwölf! James, ja! Schauspieler; wenn man Glück hat, sind ihre Gefühle pünktlich, aber sonst...

(geht zum Fenster zurück:) Sind wir im richtigen Stockwerk?
 

Im Hof bellt ein kleiner Hund auf. Rob blickt zu ihm hinunter.
 

ROB

Diese Perspektive! Das muss ich Hitch zeigen, da könnte man viel machen. Dieses Stechende, von oben... Vogelperspektive. Vogelperspektive wird immer noch unterschätzt! Man könnte einen ganzen Film machen damit. "Der Vogel"... spannend.
 

HERB

Blöde Töle. Hoffentlich haben wir keine Tiere im Film. Diese Organisation – und ich kann nicht mal den Treffpunkt finden!
 

ROB

Ruhe jetzt endlich! Wir sind richtig, und wenn schon! Entweder ist dies der richtige Ort, oder wir machen den falschen Film. Konzentration auf das Kreative! Dir – nein, euch fehlt... das Interesse am Lebendigen. Der Jagdinstinkt.
 

HERB

"Jagdinstinkt"? Dir fehlt die Kamera, wenn ich – wenn "wir" nicht dafür sorgen, dass sie zur rechten Zeit am rechten Ort ist! Filmen ist Organisation, keine ein-Mann-Performance!
 

ROB

Dann organisier‘ bitte um meine Kreativität herum, nicht durch sie hindurch! Dieser Ort ist perfekt. Organisieren... organisieren heisst suchen, filmen heisst finden.
 

HERB

Irgendwo wartet Alfred auf uns. Er schätzt Genauigkeit! Hast du gewusst, dass er beinahe Ingenieur geworden wäre? Er weiss, dass der Film eine Maschine ist...
 

ROB

Dieses Fenster ist das Auge zur Welt, merkst du das? Der Mord ist nichts, ein McGuffin; wichtig ist alles drumherum! Liebespaare, Arbeiter, Musiker – das Blut der Welt pocht in jeder Perspektive an diesem Fenster vorbei!
 

HERB

Am falschen Fenster.
 

ROB

Am falschen Fenster? Es gibt kein falsches Fenster!

... Sowieso: vielleicht steht ja Hitch am falschen Fenster.
 

HERB

Alfred steht nicht am falschen Fenster. Als Regisseur! Der Regisseur ist das Fenster. Der einzige absolute Punkt in einem Film – alles andere ist Organisation.
 

ROB

Ich kann dir nicht mehr zuhören. Geh‘ Fische verkaufen! Film ist ein Organismus und ernährt sich von Licht...

Vielleicht ist Hitch schon am Drehen, mit einer neuen Crew, hinter einem dieser Fenster. Du liest dein Buch falsch, und wir stolpern von der Bühne in die Kulissen!
 

HERB

Ja, ja... Aber vielleicht ist er ja wirklich zu spät?
 

ROB

Wir warten. Mit dem Teleobjektiv – eine fantastische Idee...
 

HERB

Sind wir im richtigen Haus?
 

Während die Kamera langsam zurückfährt rühren die zwei sich nicht von der Stelle. Weiterfahrt durchs Fenster in den Hof. Bald verliert die Kamera das Fenster aus dem Blick, wendet sich dem weiten Blau und zerstreuten Weiss des Himmels zu.
 
 

© 2000 Moritz Gerber