AUSZUG AUS
"WOHLTEMPERIERT"
Drehbuch zu einem Spielfilm
von Moritz Gerber
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INNEN. SALON - NACHT
Es
ertönt sanft das "WOHLTEMPERIERTE KLAVIER" von Bach,
Praeludium und Fuge in C-Dur, No. 1, Buch 2.
Eine
POV-Aufnahme. LEISES, ÄCHZENDES ATMEN. Blick zum
Nachthimmel...
Wir
liegen am Boden; es ist dunkel, nur schattenhaft ist
eine Schiebetür aus Glas zu erkennen, weit geöffnet, sie
führt hinaus auf eine Terrasse. Vor uns Chaos;
Glassplitter, umgekippte Möbel, Feuerschein, ein Vorhang
streicht zerfetzt hin und her. Auf dem Boden dunkle
Flecken, vielleicht Blut? Draussen auf der Terrasse die
Nacht, andere Schatten, reglos, Menschen vielleicht?
Die
Sicht wird unscharf, verschleiert, schärfer wieder,
leise stöhnend wälzen wir uns zur Seite. Da bewegt sich
etwas - draussen, am linken entfernten Rand der Terrasse,
bei der Böschung. Mühsam rappeln wir uns ein wenig auf,
Nebel in den Augen.
Wir
sehen zu der Böschung, ja, jemand bewegt sich dort,
langsam und vorsichtig. Eine Gestalt tritt auf den hellen
Marmorboden, hinter ihr Feuerschein, blendend im Dunkel.
Jetzt wendet die Gestalt den Kopf zu uns, sieht uns, ihr
Gesicht...
INNEN. SALON - MORGEN
Heller
Morgen. Nahtlos spielt die MUSIK in dieser Szene
WEITER.
Derselbe
Salon; ein weiter, geschmackvoll und teuer
eingerichteter Raum, Weiss überall. Farbenfrohe Bilder an
den Wänden, viele zeigen schwergerüstete Krieger aus dem
asiatischen Altertum, Samurais, chinesische Palastgarden.
Stahlskulpturen stehen glitzernd zwischen Ledersesseln und
schwarzen Büchergestellen. Alte Dolche und andere Waffen
hängen und liegen zur Dekoration überall im Zimmer.
Eine
Wand ist ganz aus Glas, sie geht hinaus auf die
Terrasse, bietet einen Blick über die Landschaft; das Haus
ist an einem waldigen Hang gelegen, auf der einen Seite
geht es zügig zum Berg empor, auf der anderen fällt das
Gelände ab, um weit unten sanft in die Ebene überzugehen.
Zu erkennen sind auch weitere Teile des Gebäudes, kantig,
hell, modern.
Es
ist gut zu erkennen, dass am Vortag hier eine Party
stattgefunden hat; Champagnergläser und Aschenbecher,
Silbertabletts mit Lachs- und anderen Häppchen bedecken
Tische und Boden, es herrscht Unordnung.
Jemand ist auf der Terrasse...
AUSSEN. TERRASSE - MORGEN
Noch
immer ist die MUSIK zu hören. Blendend helle, warme
Morgensonne. Die Aussicht spannt sich von der breiten
Terrassenfront weg über einen sanft abfallenden Wald, dann
Getreidefelder, in der Ferne kleine Tupfer: Bauernhäuser.
Diesem
Panorama zugewandt steht WERNER: Ein sportlicher,
gutaussehender Mann, Mitte 50, der König dieses Reiches,
aber das nimmt er gelassen. WERNER trägt einen schwarzen
Judogi (ein Judo-Anzug); dicker, weiter, griffiger Stoff.
Ein Bein WERNERS ist geknickt, eins gestreckt, die Arme
hochgehoben; er macht Tai-Chi-Übungen.
In
hellen Pastellfarben stehen die Wände des zweistöckigen
Hauses vor dem Blau und Weiss des Himmels. Klare Kanten,
nüchterne Ästhetik - Bauklotz-Spiel auf Weltiveau. Ein
Swimming-Pool glänzt inmitten der Terrasse, dem Haupthaus
gegenüber liegt in einiger Entfernung ein kleineres
Gästehaus, halb hinter Bäumen verborgen. Zur Bergseite
schliesst der ganze Komplex fast direkt an den Wald. Auch
hier draussen sind Spuren der Party zu sehen.
Nach
zwei, drei der elegant und gekonnt durchgeführten Tai
Chi-Bewegungen verharrt WERNER plötzlich - sein Fuss liegt
auf einer Glasscherbe, die Haut ist schon leicht
eingedrückt, aber noch ohne jeden Kratzer. WERNER hebt die
Scherbe auf, betrachtet die Unordnung um ihn herum.
INNEN. SALON - MORGEN
Ein
Knopf einer schwarz glänzenden Stereoanlage wird
gedrückt, die Klaviermusik ENDET.
WERNER
steht bei der Stereoanlage, in der Hand einen
grossen Abfallsack. Er schaut sich um und geht an die
Arbeit; räumt Gläser und Flaschen ab, wirft Servietten weg,
bunte Plastikdekoration, halbgegessene Kuchenstücke.
AUSSEN. VORPLATZ HAUPTHAUS - MORGEN
Eine
Strasse führt zügig ansteigend zum Haus hin, nach
unten verschwindet sie rasch hinter höher gelegenem,
bewaldetem Grund. Das Hauses scheint von hier gesehen
dreistöckig zu sein; die Garagen liegen auf dieser tiefer
gelegenen Seite ebenerdig. Neben dem Garagentor die Treppe
zur Haustür.
WERNER
steigt die Treppe hinunter, sammelt Fackelständer
ein, die links und rechts auf den Stufen stehen,
überflossen mit geschmolzenem, erstarrten Wachs.
CUT TO:
AUSSEN. VORPLATZ HAUPTHAUS - ABEND
Ein
ruhiger, schwül-heisser Abend. Jetzt stehen lange,
intakte Fackeln in den Fackelständern, ein paar davon
brennen schon, WERNER steht auf der Treppe und zündet mit
einem brennenden Holzstück eine nach der anderen an.
Zwischen Schulter und Ohr klemmt ein Handy.
WERNER
... hat er Schmerzen?
(...)
Nicht mehr? Aber ihr könnt nicht
kommen?
(...)
Schon im Bett? Ja, natürlich, ist
besser. Aber schade, ich habe
Feuerwerk gekauft...
(...)
Nein, das will ich nicht. Ich kann das
schon alles selber machen...
INNEN. EINGANGSRAUM - MORGEN
WERNER
wieder mit dem Abfallsack; auch im Eingangsraum gibt
es viel aufzuräumen. In einer Nische steht eine glanzend
lackierte Kendo-Rüstung - Zubehör des japanischen Schwert
Kampfsportes.
WERNER
greift hinter die Rüstung; seine Finger finden einen
kleinen Stapel Visitenkarten, er zieht sie hervor und
schaut sie an.
CUT TO:
INNEN. EINGANGSRAUM - ABEND
Der
Eingangsraum ist farbig beleuchtet, leise ist vom Salon
her JAZZMUSIK und STIMMENGEPLÄTSCHER zu hören. WERNER
begrüsst drei Gäste, ein EHEPAAR und einen einzelnen MANN,
den offensichtlich schon mit WERNER bekannt ist.
MANN
Werner, das sind Jan Baumann und seine
Gattin, er ist im PR-Bereich tätig.
(zum anderen gewandt,
scherzhaft:)
Werner Morf, versucht sich in
Sportartikeln.
EHEMANN
So möchte ich auch einmal etwas
versuchen!
(gibt WERNER die Hand)
Wunderbar, Sie kennenzulernen. Sie
verstecken sich ja ganz schön hier im
Wald.
Der EHEMANN drückt WERNER eine Visitenkarte in die Hand.
WERNER
(die Karte betrachtend:)
Versteck? Schön wär's Seit heute
kennen es schon wieder 50 Leute mehr.
EHEMANN
Wir sagen schon keinem was. Meine
Gattin Marianne. Sie macht übrigens
auch Judo.
Die
Gattin knufft ihrem EHEMANN mit dem Ellbogen in die
Seite, und lächelt WERNER grüssend zu.
WERNER
Freut mich. Dann muss man sich vor
Ihnen in Hut nehmen?
EHEMANN
Sie alter Meister ja wohl kaum...
WERNER
winkt die drei zum Durchgang in den Flur Richtung
Salon. Hinter seinem Rücken legt er rasch die Visitenkarte
auf die Nische hinter der Kendo-Rüstung - es liegen dort
schon mehrere solcher Karten.
BACK TO:
INNEN. EINGANGSRAUM - MORGEN
WERNER
wirft den ganzen Stapel Visitenkarten in den
Abfallsack.
INNEN. SALON - MORGEN
WERNER
steht beim Sofa, eines der dazugehörigen Kissen in
der Hand; auf einer Seite hat es einen grossen Fleck.
CUT TO:
INNEN. SALON - ABEND
Zwei
Dutzend Gäste, alle elegant gekleidet und vornehm
ausgelassen, stehen und sitzen im Zimmer und auf der
Terrasse verteilt. Trinkend, essend, plaudernd. Warmer
Abendwind weht durch die geöffnete Tür in den Salon.
WERNER
geht mit dem Handy am Ohr durch das Zimmer. Mit
kurzem Seitenblick sieht er, wie eine angetrunkene junge
Frau lachend sich nach vorne beugt und ihr Weinglas
ausschüttet, die Flüssgikeit landet auf dem Sofa-Kissen.
WERNER
(ins Handy:)
Ein Roboter...? Ah, das blaue Ding?
(...)
Ich schaue gleich nach...
INNEN. KINDERZIMMER - ABEND
Das
Handy noch am Ohr eilt WERNER ins Kinderzimmer,
schaltet das Licht ein. Schreibtisch, Schränke, Bett;
Fernseher mit Videogerät, eine Menge Spielzeuge und an den
Wänden Poster von Kampfsportlern und Filmstars.
WERNER
Also... ich sehe nichts...
Er
geht zum Bett, kniet sich hin, schaut darunter. Im
Dunkel unter der Bettkante sind schattenhaft Unmengen von
Spielzeug zu sehen.
WERNER (CONT'D)
Mensch, ist der Junge verwöhnt. Hast
du schon mal unter das Bett geschaut?
(...)
Sicher bringe ich den Roboter mit. Den
blauen, ich weiss welchen. Ich suche
ihn morgen...
(er hockt sich auf den Boden,
an die Bettkante gelehnt...)
Er schläft wieder? Die ganze Aufregung
umsonst...
(...)
Nein, es ist kein Problem. Die meisten
kennen sich ja schon untereinander,
ich stelle bloss den Champagner hin.
Dieses Geschwafel...
CUT TO:
INNEN. KINDERZIMMER - TAG
WERNER
kniet auch jetzt neben dem Bett, und neben ihm liegt
ein Haufen Spielzeug. Er zieht schon wieder etwas unter dem
Bett hervor, legt es neben sich.
WERNER
Verdammt - wo ist dieser verblödete
Scheiss-Roboter?!
Er
hockt sich wieder ans Bett gelehnt hin, sieht zum
Fenster. Auf dem Fenstersims steht ein Champagnerglas, am
Rand kleben Spuren von Lippenstift. WERNER fährt eilig auf,
zum Fenster.
BACK TO:
INNEN. KINDERZIMMER - ABEND
Es
ist dunkel im Zimmer, WERNER steht am Fenster und sieht
hinaus - das Fenster liegt im zweiten Stock.
Auf der Terrasse stehen Gäste, leise klingen die Stimmen
zum Fenster hinauf. Viele haben die Ärmel zurückgekrempelt,
die Hitze des Tages steigt aus den Wänden und Bodenplatten.
Der Wald, die Berge stehen schwarz und himmelhoch um die
kleine Lichtinsel der Terrasse.
Die
Tür zum Kinderzimmer öffnet sich, eine schlanke
Silhouette erscheint im Türspalt, schlüpft ins Zimmer. Die
JUNGE FRAU tritt zu WERNER, stellt ihr Champagnerglas auf
das Fensterbrett - Spuren von Lippenstift am Rand.
JUNGE FRAU
Verstecken Sie sich, Werner?
WERNER
Ich habe etwas gesucht.
JUNGE FRAU
Gesucht? Im Dunkeln?
Keine Antwort.
JUNGE FRAU (CONT'D)
Ich liebe Ihr Haus. So modern, dezent
eingerichtet. Und die Bilder überall -
sind ein Vermögen wert, oder?
WERNER
Sie interessieren sich für Malerei?
JUNGE FRAU
Nein. Aber für Vermögen.
Eine Pause. Dann...
JUNGE FRAU (CONT'D)
Sie wissen sehr gut, wie man sich
Leute vom Leib hält. Dieses versteckte
Haus. Den ganzen Abend sieht man Sie
kaum. Und überall die Rüstungen und
Masken und Waffen...
Keine Antwort.
JUNGE FRAU (CONT'D)
Lieben Sie keine anderen Menschen?
(sie beugt sich ganz nahe zu
WERNERS Gesicht, legt die
Hand in seinen Nacken)
Sie suchen etwas? Soll ich Ihnen
suchen helfen? Im Dunkeln...
Sie
streckt die Zunge raus und fährt mit der Zungenspitze
langsam in WERNERS Ohr. WERNER wendet sich ihr zu,
betrachtet ihr Gesicht; ein hübsches, hübsches Gesicht.
WERNER
Was sollen Sie?
Ihre
Hand fährt an WERNER hinunter, zwischen seine Beine,
greift zu.
Unter
ihrem knetenden Griff zuckt WERNER zusammen. Er legt
den Kopf zur Seite - und sieht sich einem Plüsch-Gorilla
direkt gegenüber, der ihn vom Kopfende des Bettes aus mit
verdutzten Glasaugen dumm anstarrt. Einen kleinen
Augenblick zögert WERNER. Dann:
WERNER (CONT'D)
Nein, bitte lassen Sie das.
(er stösst die JUNGE FRAU von
sich weg)
Das ist das Kinderzimmer von meinem
Sohn; ich bin verheiratet.
JUNGE FRAU
Verheiratete Männer sind die
einsamsten.
WERNER
schiebt die JUNGE FRAU zur Tür, hinaus. Mit
wehmütigem Blick auf ihren Hintern folgt er ihr.
BACK TO:
INNEN. KINDERZIMMER - TAG
WERNER
steht beim Fenster, das Champagnerglas in der Hand.
Er schaut es an, dreht sich dann um, blickt zum Plüsch
Gorilla auf dem Bett. Auf dem Fensterbrett steht nebst
anderem Allerlei ein Tennisball. WERNER nimmt den Ball und
wirft ihn mit beiläufiger Bewegung in Richtung Gorilla - im
Bauch getroffen kippt der Affe vom Bett und landet kopfüber
auf dem Boden.
WERNER geht zum Flur und schliesst die Tür hinter sich.
AUSSEN. TERRASSE - TAG
Es
ist jetzt alles schön aufgeräumt und geputzt. WERNER
geht mit rotgebrannter Stirn über die Terrasse zum Haus,
die Sonne heizt kräftig. WERNERS Blick fällt auf ein
letztes Übrigbleibsel der Party; in einer Ecke liegt eine
Polaroid-Kamera, daneben mehrere Photos.
Er hebt die Sachen auf und geht ins Haus.
INNEN. SALON - TAG
WERNER
betrachtet das oberste Photo; eine Aufnahme von ihm
im Salon, er steht inmitten der Gäste bei einem Tisch. Auf
dem Tisch eine grosse Geburtstagstorte. Darüber eine
Schlaufe mit dem Schriftzug: "HAPPY BIRTHDAY - 15 JAHRE
MORF-SPORT".
INNEN. WERNERS GELÄNDEWAGEN - TAG
WERNER
sitzt nun in einem protzigen "Geländewagen" für
Grosstädter, auf dem Platz vor dem Haupthaus. Er zielt mit
einer Fernsteuerung zur Garage, drückt einen Knopf, das
Garagentor senkt sich. Der Wagen rollt los.
Wenige
Meter weiter unten fährt er durch ein breites
Gittertor. RATTERND schliesst es sich hinter dem
davonfahrenden Wagen.
AUSSEN. LANDSTRASSE BEIM WALD - TAG
WERNERS
Wagen gleitet rasch aus dem Wald, weiter zwischen
weiten Feldern, weit und breit der einzige Wagen.
INNEN. WERNERS GELÄNDEWAGEN - TAG
WERNER
beugt sich zu seiner Stereoanlage, drückt ein paar
Knöpfe. Heitere POPMUSIK ertönt, den Takt mit Fingern aufs
Steuerrad klopfend lehnt WERNER sich in seinen Sitz zurück.
AUSSEN. DUNKLES WALDSTÜCK BEI STRASSE - TAG
Zwei
Wagen sind hier geparkt, ein alter Kombi
Familienschlitten und ein Minivan, mitten auf bewachsenem
Waldboden, einige Meter entfernt die Strasse. Mehrere
Gestalten sitzen in den Wagen. Auch aus den Radios dieser
Wagen tönt die POPMUSIK, leiser allerdings, blechern.
Nahe
der Strasse steht eine etwa 30-jährige Frau, schwarze
Kleidung, schwarze Haare; dann ein Gesicht, das einmal sehr
schön gewesen sein muss, das jetzt aber einen Riss zu haben
scheint. Schweissperlen. Bleichblaue Augen. NADINE. Ist an
einen Baum gelehnt, kaut angespannt auf irgendwas herum.
NADINE
blickt dem Geländewagen WERNERS nach, der eben an
ihr vorbeigeschossen ist. Sie hebt ein Handy ans Ohr,
spricht rein.
NADINE
Michel. Er ist eben vorbei. Hat einen
Zahn drauf.
(...)
Gecheckt. Keinen Unsinn jetzt, ja?
Sie
schaltet ihr Handy aus, wendet sich den Gestalten in
den Wagen hinter ihr zu. Zuckt mit den Schultern.
AUSSEN. STRASSENGABELUNG - TAG
Die POPMUSIK ist nun wieder in klarem, sattem Ton zu hören.
Die
vom Berg her abfallende Strasse teilt sich hier, weiter
hinunter führt eine breitere, zweispurige Strasse.
WERNERS Wagen gleitet von der kleinen auf die grössere
Strasse über, fährt dann noch etwas schneller über die
menschenleere Landschaft.
Ein
zweiter Wagen - auch ein Geländewagen - taucht hinter
ihm auf, hält einen Abstand von zwei-, dreihundert Metern;
und so fahren sie dahin.
HIER BEGINNEN DIE CREDITS
(c) Moritz Gerber